Reinhard Müller Herbert Wehner – Moskau 1937. Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft Hamburg 2004. 570 S., zahlr. Abb. ISBN: 3-930908-82-4.

Der Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung Reinhard Müller hat seit Anfang der neunziger Jahre mehrere Publikationen über die Verstrickung deutscher Emigranten in den sowjetischen Terror der Stalinzeit vorgelegt. Vor allem Herbert Wehner stand dabei mehrmals im Fokus seines Interesses. Dies traf auf besondere öffentliche Resonanz, spielte Wehner doch in der Nachkriegszeit in der SPD eine exponierte Rolle. Der weitere Verlauf der Debatte um Wehner muss Müller dazu veranlasst haben, seine Kritiker mit vermeintlich unwiderlegbaren Beweisen von einer Mitschuld Wehners an der Ausgestaltung des Terrors zu überzeugen. Seine Argumentation ist dabei, dass es – ausgehend von der These vom Stalinismus als Mitmachgesellschaft – nicht nur wichtig sei, die Täterschaft der Machthabenden darzustellen, sondern auch das Dazutun der Bevölkerung.

Die Hälfte dieses Buches nun besteht aus einer biographischen Erzählung Müllers über Weh­ner mit dem Schwerpunkt auf den Jahren des Terrors in Moskau, die andere Hälfte aus Dokumenten jener Zeit, die von Wehner verfasst wurden oder ihm zugeordnet werden. Als Kernstück der Argumentation dient Müller das siebente Dokument, der Direktbrief der Hauptverwaltung Staatssicherheit des NKWD vom 14. Februar 1937. Wehner war vorher mehrmals in der Lubjanka befragt worden. „Wehners Expertise“, so Müllers Schlussfolgerung, „und seine protokollierten ‚Agenturberichte‛ (d.h. Informanten-Berichte) für das NKWD lösten mit dem NKWD-Direktbrief Nr. 12 nach dem 14. Februar eine umfassende Verhaftungswelle unter den deutschen Emigranten in der Sowjetunion aus.“ (S. 11) An etwas späterer Stelle heißt es erneut, dass „Wehners schriftliche und münd­liche Informationen im Februar 1937 zur Verfertigung eines NKWD-Befehls beitrugen, der zur Verhaftung und Erschießung zahlreicher deutscher Emigranten führte“. (S. 20) Was heißt „Verfertigung“, was „beitrugen“? Heißt es, dass Wehners Aussagen den Direktbrief verursachten, mitverursachten oder dass der NKWD seine Aussagen bzw. seine Formulierungen benutzte? Müller bezieht offensichtlich Position und lässt doch Interpretationsmöglichkeiten offen. Erkennbar wird dies an der Aussage, die er in der Fußnote zu dem letztgenannten Zitat versteckt: „Dieses impliziert jedoch nicht, daß deren Verhaftungen ausschließlich auf die Meldungen und Berichte Herbert Wehners zurückzuführen sind.“ (S. 20).

Kein Autor kann die Aufnahme seines Werkes in Gänze überblicken oder gar steuern. Aber mit besonderen Formulierungen, Schwerpunktsetzungen, methodischen Entscheidungen gibt er natürlich in erheblichem Maße eine Richtung vor. So wurde das Buch folgerichtig auch als Instrument in der anscheinend immer noch aktuellen Auseinandersetzung um die Person Herbert Wehners benutzt, wie es beispielsweise eine Rezension von Brigitte Seebacher-Brandt gezeigt hat (Brigitte Seebacher-Brandt Die Taten des Herbert Wehner, in: Welt-online, 12.9.2004 [http://www.welt.de/print-wams/ article115581/
Die_Taten_des_Herbert_Wehner.html; angesehen 27.04.2009]). Sie schlägt den ehemaligen Kommunisten Wehner und meint den Widersacher Willy Brandts in der SPD.

Mit größerem Gewinn kann man das Buch – mit der gebotenen Quellenkritik natürlich, denn nicht alle Informationen der NKWD- und Komintern-Akten sind so zuverlässig, wie es Müller zuweilen suggeriert – als Nachschlagewerk benutzen, wenn man über Emigranten des sowjetischen Exils Hinweise erhalten will, die man sich anders nur mühevoll oder gar nicht besorgen kann. Als Beitrag zum Verständnis der Sowjetunion der dreißiger Jahre ist es nur bedingt tauglich. Es gibt Mikrogeschichten, die in sich den Kosmos einer Makrogeschichte bergen. Dies ist bei Herbert Wehner nicht der Fall – weder in Bezug auf die Geschichte des deutschen Exils noch in Bezug auf die Geschichte des Stalinismus. Dazu war die Person Wehners zu singulär und sein Blickwinkel im Moskau des Jahres 1937 zu sehr eingeschränkt. Und es ist die Wahrnehmung der Welt durch Wehner, in der der Autor argumentiert. Dieses könnte man Müller zum Vorwurf machen: um der öffentlichen Aufmerksamkeit willen die Quellen so interpretiert zu haben, dass der Stalinismus als IM-Geschichte erzählt wird. Wie sehr stalinistisch Herbert Wehner 1937 auch gedacht und gehandelt hat, diese Vorführung hat Wehner selbst vorausgesehen: „Sie werden mir“, so ein häufig zitierter Ausspruch Wehners gegenüber Schumacher, der ihn 1949 als Kandidaten der SPD für den Deutschen Bundestag gewinnen wollte, „die Haut vom lebendigen Leibe abziehen“.  Bisher hat man dieses Zitat immer nur auf seine kommunistische Vergangenheit im Allgemeinen bezogen. Durch die Publikation Müllers bekommt es eine tiefere Bedeutung.

Carola Tischler, Berlin

Zitierweise: Carola Tischler über: Reinhard Müller Herbert Wehner – Moskau 1937. Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft Hamburg 2004. ISBN: 3-930908-82-4, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 614-616: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Tischler_Mueller_Herbert_Wehner.html (Datum des Seitenbesuchs)