Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 501-503

Verfasst von: Carola Tischler

 

Alastair Kocho-Williams: Russian and Soviet Diplomacy 1900–39. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2012. XII, 215 S., Graph., Tab. ISBN: 978-0-230-25264-6.

Hinter diesem Titel verbirgt sich eine Kulturgeschichte der russischen und frühen sowjetischen Diplomatie. Der Ansatz der systemübergreifenden Betrachtung ist verlockend, und er bietet sich gerade für die Diplomatenwelt an, beinhaltet die Diplomatie mit ihren internationalen Normen doch wenig Raum für Abweichungen. So ist die These, dass es zwischen 1900 und 1939 einen großen Anteil an Kontinuität gab (S. 2) zunächst nicht verwunderlich. Der Autor möchte aber, um die politische Kultur der Diplomatie dieser Umbruchszeit darzustellen, tiefer gehen: Wie steht es um die Herkunft und die Qualifikation der Diplomaten im Zarenreich und in der Sowjetunion, wie unterscheidet oder gleicht sich deren Verhalten und Selbstdarstellung, wie ähnlich oder wie unterschiedlich arbeiten die Außenministerien und die jeweils an ihrer Spitze stehenden Minister?

Die Untersuchung ist in vier Zeitabschnitte unterteilt, die jeweils rund 30 Seiten umfassen: das späte Zarenreich bis zur Februarrevolution, die Zeit der Oktoberrevolution und der Machtsicherung des bolschewistischen Regimes, die 1920er Jahre mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen und schließlich die Stalinzeit der 1930er Jahre. Bei diesem Seitenumfang für die einzelnen Abschnitte wird schon eines deutlich: Die Ergebnisse der Arbeit sind recht bescheiden, und sie bietet nicht viel mehr, was nicht schon durch andere Publikationen bekannt wäre.

Die Diplomaten der Zarenzeit, so führt Kocho-Williams aus, kamen vor allem aus der oberen Adelsschicht. Sie hatten die Etikette der oberen Gesellschaftsschicht verinnerlicht und orientierten sich sowohl im Habitus als auch in ihrem Wunsch nach Einsatz vor allem nach Westen (mit Ausnahme der prestigeträchtigen Positionen in Tokio und Teheran). Die Erziehung und die Bildung waren eher Formsache, vor allem war esanderen Staaten nicht unähnlicheine Frage des Netzwerkes, auf welche Weise sie in das Außenministerium eintraten. Die Revolution von 1905 leitete auch im Außenministerium Reformen ein. Vor allem Izvolskij wollte gegen innere Widerstände im Ministerium die Zahl der Abteilungen reduzieren und die Zuständigkeiten klarer benennen. Als Quellen dienten dem Autor Memoiren (auch die in US-amerikanischen Archiven) und die Forschungsliteratur. Das Archiv des Außenministeriums des Russischen Imperiums (AVP RI) wird zwar an einigen Stellen miteinbezogen, aber nicht durch für das Thema essentielle Akten.

Der Bruch mit den alten Vorstellungen von Diplomatie durch die Oktoberrevolution währte nur kurz. Der These des Autors zufolge war mit der Kominterngründung 1919, an der eine Reihe von sowjetischen Diplomaten beteiligt war, der Zwiespalt in der sowjetischen Politik gelöst: Die Komintern war für die revolutionäre Tätigkeit zuständig, die Diplomaten konnten sich den internationalen Regeln des diplomatischen Austausches widmen. Aber erst etwa 1924 hätten sie diese Arbeitsteilung endgültig angenommen und nicht mehr unterlaufen (S. 62). Dass  trotzdem die Bevollmächtigten Vertretungen sich mit Geheimdienstarbeit beschäftigten, sei kein Widerspruch dazu, sondern Ausdruck der Normalität, denn auch die anderen Staaten hätten dies getan. Eine Erscheinung, die die Andersartigkeit der sowjetischen Vorstellungen über Diplomatie darlege, sei dagegen die Ernennung Kollontajs als erste weibliche Botschafterin überhaupt gewesen. Auch unter Čičerin, später ebenso unter Litvinov sei die Rekrutierung der Diplomaten aufgrund von Netzwerken und Patronage erfolgt, bei Litvinov wird dies vor allem mit der Berufung von Majskij belegt. Mit der Ablösung Litvinovs, der für das System der kollektiven Sicherheit stand, durch Molotov, der eine Annäherung an Deutschland betrieb, endet der Band. In gewisser Weise hätte  sich damit ein Kreis geschlossen von dem zu Beginn des Jahrhunderts dem Zaren hörigen Außenministerium zu dem nach dem Terror wieder machtlos gewordenen Narkomindel unter einem willfährigen Molotov (S. 155). Auch in dem Teil über die Sowjetunion erfolgt die Schwerpunktsetzung vor allem aufgrund von Informationen aus veröffentlichten Memoiren, deshalb wird auch viel an den Beispielen von Kollontaj und Majskij verallgemeinert. Dem Band ist ein fünfseitiger Anhang mit biographischen Angaben zu im Text genannten Diplomaten beigegeben. Diese Auswahl macht auf eindrückliche Weise die Problematik des gesamten Buches deutlich: Das, was bekannt ist, wird als entscheidend bewertet; die Fragen werden nach dem gestellt, was anhand der bestehenden Literatur beantwortet werden kann: ein circulus vitiosus. Diese Schwäche ist aber nur zu einem geringeren Teil dem Autor anzulasten. Die Zeit und die Möglichkeiten für eine darüber hinausgehende Studie sind anscheinend noch nicht gekommen.

Trotz dieser Kritik ist das Erscheinen des Buches sehr zu begrüßen. Es gibt uns eine hilfreiche Zusammenstellung der angloamerikanischen und russischen Forschung bezüglich der Außenministerien und auch eine Übersicht der außerhalb Moskaus liegenden Archivbestände. Und es reizt natürlich dazu, sich der vielen angeschnittenen, aber noch unbearbeiteten Themen anzunehmen; dies dann aber doch lieber einzeln und nicht in einer Vergleichsstudie: etwa in Form einer Kollektivbiographie zarischer Diplomaten (dies wäre ja möglich, sind die Personalakten doch im AVP RIim Gegensatz zum AVP RFzugänglich!), von Einzelbiographien (die nicht rezipierte Arbeit über Čičerin von Ludmilla Thomas ist auf Russisch immerhin schon 2010 erschienen), aber auch von einzelnen Aufsätzen über die äußerst lebhafte Diskussion im zarischen Außenministerium nach der Februarrevolution über die Umgestaltung des Diplomatendienstes, die mit keiner Silbe erwähnt wird, oder über die immer noch unbekannte Struktur des sowjetischen Außenkommissariats in den verschiedenen historischen Etappen.

Trotzdem noch eine letzte Krittelei: Das Cover ist fast vollständig ausgefüllt mit einem Foto des Nachkriegs-Außenministeriums in Moskau, in Untersicht aufgenommen, sodass die Mächtigkeit dieses Stalinschen Zuckerbäckerbaues noch einschüchternder wirkt. Weder das Außenministerium an der Sängerbrücke in Petersburg noch das Narkomindel in unmittelbarer Nähe der Lubjanka in Moskau besaßen dem Urteil des Autors zufolge diese Macht, und sie residierten in völlig anders aussehenden Gebäuden. Warum diese irreführende Assoziation?

Carola Tischler, Berlin

Zitierweise: Carola Tischler über: Alastair Kocho-Williams: Russian and Soviet Diplomacy 1900–39. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2012. XII, 215 S., Graph., Tab. ISBN: 978-0-230-25264-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Tischler_Kocho-Williams_Russian_and_Soviet_Diplomacy.html (Datum des Seitenbesuchs)

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