Benjamin Nathans, Gabriella Safran (Hrsg.) Culture Front. Representing Jews in Eastern Europe. University of Pennsylvania Press Philadelphia, PA 2008. IX, 323 S.

Der vorliegende Sammelband vereinigt Beiträge, deren Autoren und Autorinnen sich während des akademischen Jahres 2002/03 am Center for Advanced Judaic Studies der Universität von Pennsylvania zu einem intensiven Austausch über die osteuropäischen Judenheiten zusammenfanden. Er ist dem 2007 verstorbenen John D. Klier gewidmet, der mit seinen Studien (Russia gathers her Jews: the origins of the „Jewish Question‟ in Russia, 1772–1825. DeKalb, IL 1986; Imperial Russia’s Jewish questions, 1855–1881. Cambridge 1995) die Forschung auf diesem Gebiet entscheidend geprägt hat.

Osteuropa mit seinen wechselnden staatlichen Ordnungen und Zugehörigkeiten entwickelte sich seit der Frühen Neuzeit zur Heimat der größten jüdischen Diasporagemeinschaft. Lag der Schwerpunkt in der Forschung lange Zeit auf sozialgeschichtlichen Fragestellungen, so traten vornehmlich in den letzten zwei, drei Dekaden lebensweltliche Ansätze, Holocaustforschung, kulturhistorische Fragen und schließlich Fragen, die im Kontext der cultural turns stehen, in den Vordergrund. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes Benjamin Nathans und Gabriella Safran verfolgen nun zweierlei: Zum einen gilt es, die Kritik Salo Barons von einer – in Hinblick auf Verfolgung und Diskriminierung – „lachrymose conception“ der jüdischen Geschichtsschreibung zu überprüfen und dies, zum anderen, an Gegenständen, die sich um die kulturelle Produktion der osteuropäischen Juden anordnen: „[] the essays collected here do not displace the lachrymose conception of the Jewish past; instead they contextualize and interrogate it in the under-explored terrain of cultural production‟. (S. 14)

Die elf Aufsätze widmen sich thematisch, sprachlich, zeitlich und räumlich den unterschiedlichsten Untersuchungsgegenständen – sie analysieren Akteure, Diskurse und Kontexte von der Frühen Neuzeit bis in die unmittelbare Gegenwart in Polen, Russland und Israel, in den Sprachen Hebräisch, Jiddisch, Polnisch und Russisch. Sie sind in vier thematische Blöcke gegliedert. In „Violence and Civility‟ analysiert Adam Teller das Entstehen eines distinkten polnisch-jüdischen Selbstverständnisses in literarischen Texten als Reaktion auf den Chmel’nickij-Aufstand. Marcin Wodziński betrachtet Entwicklungen ein Jahrhundert später, als Agenda, Motivation und Handlungen der polnischen Aufklärer zunehmend von denen der Maskilim, der jüdischen Aufklärer, divergierten. In „Mirrors of popular culture“ verfolgt Alyssa Quint die Entstehung des jiddischen Theaters um den Dramatiker Avrom Goldfaden, der sich im Spannungsfeld von Fortsetzung und Abwendung von der Haskala befand. Eugenia Prokop-Janiec wendet den Blick auf polnische und polnisch-jüdische Populärliteratur um 1890 und argumentiert, dass hier wie in den Texten der „Hochkultur“ die Tendenz der Moderne zur Exklusion und zur verstärkten Spannung zwischen dem Universalen und dem Partikularen zu finden sei. Michael C. Steinlauf schlussfolgert in seiner Untersuchung der polnischen fin-de-siècle-Bühne, dass der kulturelle Kontakt zwischen jüdischen und nichtjüdischen Theaterschaffenden und -besuchern nicht zu einer potentiell möglichen gemeinsamen Kultur geführt habe, sondern unterschiedliche Wahrnehmungen eine „Chinesische Mauer“ zwischen beiden Gruppen befestigt hätten. Im dritten Teil „Politics and aesthetics“ gehen Jonathan Frankel, Ha­mutal Bar-Yosef, Kenneth B. Moss und Kath­ryn Hellerstein den politischen Implikationen von intellektueller Kulturproduktion, der bislang eine apolitische Haltung zugeschrieben wurde, nach. Frankel konzentriert sich hierbei auf das Schaffen von Y. H. Brenner und Bar-Yosef auf H. N. Bialik, wohingegen Moss im Anschluss an die übersetzungsprogrammatischen Überlegungen des ausgehenden zweiten Jahrzehnts des 20. Jh. die Frage nach Universalisierung und Nationalisierung der jüdischen Kultur diskutiert. Hellerstein wiederum beschreibt die Neuerfindung des Esther-Stoffes der purim-shpil in der jiddischen Lyrik des Zwischenkriegspolen. Der letzte Teil „Memory projects‟ stellt zwei Erinnerungskonzepte im nachrevolutionären Russland und im heutigen Israel vor. Marcus Moseley bietet eine Lesart der Memoiren des marxistischen jiddischen Literaturkritikers Meir Viner an, in der ausgeprägte Züge der von Viner sonst verurteilten „bourgeoisen“ Autobiografie identifiziert werden. Jeffrey Shandler schließlich stellt Yaffa Eliachs Projekt eines „Living History Museum“ in Rishon le-Tsion vor, das ihr Heimatštetl mit all seiner lebensweltlichen, säkularen wie sakralen Infrastruktur nachbildet.

Die Aufsätze zeichnen in bemerkenswerter Weise ein Bild von Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der kulturellen Produktion der osteuropäischen Judenheiten nach, die sich um die zentralen Achsen Kulturkontakt, Dialog, Säkularisierung, Aneignung, Übersetzung und Transformation drehen. Die Vielfalt der Untersuchungsgegenstände – Populär- und Hochkultur, Theater, Museum – eröffnen eine Breite, die epistemische Möglichkeit und Herausforderung zugleich ist. Vor allem aber bezeugt dieser Band eindrücklich die Ver­ste­tigung und Etablierung des Gegenstands der osteuropäisch-jüdischen Geschichte und Kultur in den letzten Jahren, nicht zuletzt in seiner Relevanz für die osteuropäische und allgemeine Geschichte einerseits und für kulturwissenschaftliche Fragestellungen andererseits. Im deutschen Sprachraum wird diese Problematik von Gegenstand und Fragestellung in den letzten Jahren zunehmend wahrgenommen; zu verweisen wäre etwa auf Osteuropa 2008, Heft 8–10; auf die Arbeiten von Yvonne Kleinmann, Gertrud Pickhan, Susanne Marten-Finnis, Heiko Haumann u.a.

Olaf Terpitz, Leipzig

Zitierweise: Olaf Terpitz über: Benjamin Nathans, Gabriella Safran (Hrsg.): Culture Front. Representing Jews in Eastern Europe. University of Pennsylvania Press Philadelphia, PA 2008. ISBN: 978-0-8122-4055-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 102-104: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Terpitz_Nathans_Culture_Front.html (Datum des Seitenbesuchs)