Alexander S. Morrison Russian Rule in Samarkand, 1868–1910. A Comparison with British India. Oxford University Press Oxford, New York 2008. XXX, 364 S.Oxford Historical Monographs. ISBN: 978-0-19-954737-1.

Die Geschichte fing nicht gut an: Nachdem Samarkand 1868 von der russischen Armee zunächst kampflos besetzt worden war, zog der größte Teil der Truppen ab und marschierte gegen die Hauptstreitkräfte des Emirs von Buchara weiter. Diese Gelegenheit ließ sich der älteste Sohn des Emirs, Abd al-Malik Tura, nicht entgehen und nahm die Stadt mit seinen lokalen Verbündeten wieder ein. Sie belagerten die verbliebene russische Garnison für mehrere Tage. Unter den Angriffen kam fast die Hälfte der 500 russischen Soldaten ums Leben. Schließlich konnte die Festung, in der sie sich verschanzt hatten, entsetzt werden und die bucharischen Truppen flohen. Die Sieger brannten aus Rache Samarkands Basar nieder. In seiner Gewaltsamkeit war der Konflikt zwischen Invasoren und Einheimischen nur für die Eroberungsphase typisch. Doch die kriegerischen Auseinandersetzungen prägten das Verhältnis beider Seiten zueinander auch langfristig. Machtdemonstrationen und Misstrauen der Eroberer strukturierten die Kolonialgesellschaft ebenso wie Distanz und Eigensinn der Untertanen.

Alexander Morrison ist es gelungen, eine facettenreiche Darstellung zu schreiben, die sowohl aufgrund ihrer philologischen Expertise als auch aufgrund ihrer soliden Quellenbeherrschung beeindruckt. Anders als es der Titel erwarten lassen könnte, handelt es sich bei seinem Buch nicht um eine Stadtgeschichte (wie sie Jeff Sahadeo jüngst für Taschkent vorgelegt hat). Vielmehr ist Morrisons Buch eine systematische Darstellung der russischen Herr­schafts­praxis in Turkestan, in der die Provinz Samarkand als Fallstudie fungiert. Aus dieser Anlage resultiert der ungewöhnliche chronologische Rahmen der Untersuchung: Sie beginnt mit der Geschichte der Eroberung, legt den Schwerpunkt aber auf die zwei großen Revisionen Turkestans 1882 und 1908/09. In den Revisionsberichten findet Morrison seine wichtigsten Quellen. Das britische Indien wird in einem systematischen Vergleich eingebunden, um einerseits das oft widersprüchliche Handeln der jeweiligen imperialen Eliten in den Blick zu bekommen, und um andererseits erstaunliche Ähnlichkeiten und fundamentale Unterschiede in der Praxis der kolonialen Herrschaft in Turkestan und Indien herauszustellen.

Morrison beginnt seine Ausführungen mit der Geschichte des Machtgefüges in Zentralasien vor dem Vordringen der russischen Armee. Der oft auf die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den mittelasiatischen Chanaten reduzierten Ereignisgeschichte stellt Morrison den Handel und Wandel der verblüffend heterogenen einheimischen Gesellschaften entgegen. Immer wieder kann er so zeigen, dass das herrschaftliche Erbe der Chane die russische Verwaltung in Turkestan mindestens ebenso stark prägte wie das tiefsitzende Misstrauen der neuen Administratoren gegen den Islam. Dass diese Religion ein „Problem“ für die Entscheidungsträger in der russischen Verwaltung darstellte, könnte man angesichts der von Generalgouverneur Konstantin von Kaufmann betriebenen Politik der „Ignorierung“ des Islam leicht ver­gessen. Andererseits: Trotz des propagierten zivilisatorischen Gegensatzes zu den Muslimen und trotz des habituellen russischen Misstrauens selbst gegen die tatarischen Vermittler der Zarenherrschaft war die militärische Absicherung der Region immer das wichtigste Anliegen. Stän­dig fürchteten die „Kolonialherren“ Aufstän­de und Unruhen „fanatischer“ Muslime. Wieder und wieder wurden radikale Pläne der Militärverwaltung in Turkestan dem höchsten Gut geopfert: Ruhe und Ordnung.

Zwangsläufig führte die Politik der „Ignorierung“ des Islam zum Scheitern aller Ansprüche, die die russischen Administratoren an ihre eigene Herrschaft stellten. Ihre Zivilisierungsmission beruhte auf dem Konzept des sbliženie, der Annäherung der Bevölkerung an die russische Leitkultur des Imperiums. Die Stärke von Morrisons Untersuchung liegt darin, das Scheitern dieser Ansprüche nicht nur zu postulieren, sondern die Gründe hierfür faktenreich herauszuarbeiten. So versagte das russische Grundschulwesen in Turkestan nicht nur wegen des bleibenden Misstrauens der einheimischen Bevölkerung, sondern auch wegen der schlechten Ausstattung der russischen Schulen und eines Mangels an geeignetem Lehrpersonal. Sie waren gegenüber den einheimischen religiösen Schulen nicht konkurrenzfähig. Zudem hintertrieb die russische Verwaltung autochthone Reformbemühungen ebenso, wie sie das Sprachtraining für die eigenen Administratoren vernachlässigte. Muslimische Beamte, die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch präsent gewesen waren, wurden bis zur Jahrhundertwende systematisch aus der Militärverwaltung hinausgedrängt. Die von ihrem Sendungsbewusstsein gespeiste Überheblichkeit der russischen Verwaltungskräfte untergrub zusätzlich die Ausstrahlungskraft der von ihnen propagierten „europäischen“ Zivilisation.

Ohnehin stand der zivilisatorische Koloss auf tönernen Füßen: Die russischen Eroberer beseitigten schnell die höchsten religiösen Ämter, und sie vertrieben die großen Landbesitzer (amlakdari). Jedoch blieb ihre Herrschaft indirekt auf einheimische Vermittler angewiesen (Über­setzer, Richter, Distriktvorsteher, Kanalaufseher). Die russischen Militärbeamten waren erdrückt von ihrer Aufgabenlast und überfordert von ihren ausufernden Entscheidungskompetenzen. In vielen Bereichen – insbesondere im Gerichtswesen – erschwerte die von einem amerikanischen Reisenden süffisant beschriebene russische „curious devotion to the principle of popular election“ das Durchdringen nach unten. Ausufernde Patronage-Netzwerke, die niedrige Bezahlung der einheimischen Verwaltungsmitarbeiter und die oberflächliche Ortskenntnis der schlecht ausgebildeten russischen Beamten untergruben die Kolonialherrschaft weiter. Korruption und Ressourcenknappheit, aber auch Unkenntnis und Gleichgültigkeit bestimmten das Bild. Dies galt für den zentralen Bereich der künstlichen Bewässerung ebenso wie für die ineffektive staatliche Kontrolle über die Einkünfte religiöser Stiftungen (vaqf). Hohe ideelle Ansprüche standen gegen die Eigenmächtigkeit und die alles durchdringende Mittelmäßigkeit der Administratoren – gleichgültig, ob es sich um russische Militärs oder die einheimischen Vertreter des Kolonialstaats handelte.

Jedoch erzählt Alexander Morrison in „Russian Rule in Samarkand“ keine Geschichte des Scheiterns und der Rückständigkeit. Vielmehr zeigt für ihn der Vergleich mit der britischen Verwaltung in Indien, dass Schlendrian und Korruption, Missverständnisse und Gleichgültigkeit grundlegende – und auch sympathische – Eigenschaften von Kolonialstaaten waren, die sich auf das Prinzip der indirekten Herrschaft verlassen mussten. Die Erfolge dieser Herrschaftsform ergaben sich nicht aus den Absichten der Kolonialherren, sondern aus ihren nicht-intendierten Nebenwirkungen („English language, parliamentary democracy, and cricket”). Wegen der laxen Religionspolitik und der niedrigen Besteuerung charakterisiert Morrison die Verwaltung Turkestans folgerichtig als „a regime of benevolent neglect“. Im Vergleich zum britischen Kolonialsystem in Indien war die russische Verwaltung nicht sehr leistungsfähig – aber auch weit weniger konfliktträchtig. Aufgrund ganz anderer Argumente kommt Morrison so zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Robert Crews, der in seinem Buch „For Prophet and Tsar“ das Zarenreich als ein Erfolgsmodell der imperialen Integration beschrieben hatte, das erst unter der Last des europäischen Krieges zusammenbrach.

Christian Teichmann, Berlin

Zitierweise: Christian Teichmann über: Alexander S. Morrison Russian Rule in Samarkand, 1868–1910. A Comparison with British India. Oxford University Press Oxford, New York 2008. = Oxford Historical Monographs. ISBN: 978-0-19-954737-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 292: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Teichmann_Morrison_Russian_Rule.html (Datum des Seitenbesuchs)