Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 164-165

Verfasst von: Piotr Szlanta

 

Keya Thakur-Smolarek: Der Erste Weltkrieg und die polnische Frage. Die Interpretationen des Kriegsgeschehens durch die zeitgenössischen polnischen Wortführer.  Münster, Berlin, Wien [usw.]: LIT, 2014. 638 S. = Osteuropa: Geschichte, Wirtschaft, Politik, 48. ISBN: 978-3-643-12777-8.

Der Erste Weltkrieg hat die politische Ordnung und die Landkarte Ostmitteleuropas vollständig verändert. Für die Polen selbst führte er nach 123 Jahren zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit ihres Staates. Obwohl man in den letzten Jahren ein wachsendes Interesse der Historiker und Historikerinnen an der Geschichte Polens während des Großen Krieges beobachten kann, fehlt es immer noch an einer Überblicksdarstellung zu den Wandlungen der polnischen öffentlichen Meinung insgesamt und nicht nur einzelner Parteien. Die Studie von Thakur-Smolarek ist, wie schon der Titel ankündigt, der Rezeption von Kriegsereignissen durch die polnische Presse gewidmet. Die Verfasserin hat verschiedene Quellen verwendet und untersucht, die aus allen Teilungsgebieten Polens stammen und das ganze Spektrum von polnischen politischen Gruppierungen repräsentieren: die Konservativen, die Nationaldemokraten, die Sozialisten, die Sozialdemokraten sowie die Bauernparteien. Zeitungen, Wochenzeitschriften, Parteiprogramme, Flugblätter, Aufrufe, Denkschriften, Rundschreiben von Parteileitungen, öffentliche Reden von Politikern geben uns Einsicht in die damaligen Befürchtungen sowie die alltäglichen Schwierigkeiten und Hoffnungen der Vertreter aus unterschiedlichen sozialen Schichten und der wirklichen und vermeintlichen Wortführer dieser Milieus.

Dabei unterlag – so wie jeder Pressetitel in den kriegführenden Staaten – auch die polnische Presse strikter Zensur bzw. Selbstzensur. Journalisten und Publizisten wussten genau, was sie schreiben durften und was nicht. Der polnische politische Diskurs musste sich ja an den Rahmen der Propagandapolitik der kriegführenden Mächte anpassen. Die Stimmen der polnischen Medien in Galizien oder aus dem preußischen Teilungsgebiet zeichneten Russland als einen zurückgebliebenen und barbarischen Staat, der Polen und dem Katholizismus feindlich gegenüberstand. In den Medien Kongresspolens wurden bis 1915, genauso wie in den Jahren vor dem Kriegsausbruch, dagegen die Deutschen und besonders die Preußen als die größte Gefahr für die Existenz des Polentums oder sogar des ganzen Slawentums dargestellt. Dort warf man Piłsudskis Legionären vor, unbewusst den deutschen imperialen Interessen zu dienen. Da nicht alle Fragen öffentlich erörtert werden konnten, blieben sie ungeklärt. Die polnische Presse galt den einschlägigen Behörden als potentiell besonders verdächtig und stand unter entsprechender Beobachtung. In einer sich ständig ändernden und oft unübersichtlichen Kriegslage versuchten die polnischen Wortführer (hauptsächlich Politiker und Journalisten), die polnische öffentliche Meinung von ihren Interpretationen der Kriegsereignisse zu überzeugen und das polnische Nationalinteresse zu definieren.

Thakur-Smolarek hat sich auf die Wahrnehmung und die Deutungen folgender Kriegsereignisse durch die polnischen politischen Eliten konzentriert: den Kriegsausbruch, die Errichtung des vorläufigen Staatsrats und des Regentschaftsrats, die beiden russischen Revolutionen, Kämpfe auf den polnischen Gebieten, die deutsche und die österreich-ungarische Besatzungspolitik in Kongresspolen, die Zwei-Kaiser-Proklamation vom. 5. November 1916 und den Frieden von Brest-Litowsk. Die Ereignisse und Prozesse, die Thakur-Smolarek gewählt hat, waren aus polnischer Perspektive von großer Bedeutung; sie wurden von politischen Gruppierungen intensiv diskutiert und interpretiert. Selbstverständlich werden bei den Schilderungen des Kriegsgeschehens nicht nur die politischen und die sozialen Unterschiede deutlich, sondern auch die regionalen. Die Polen aus Russland oder Österreich konnten, wenn auch nicht ihre absolute Unabhängigkeit, so zumindest eine bedeutsame und reale Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und ihrer nationalen Freiheiten erreichen; die loyale Haltung der polnischen Untertanen während des Krieges gegenüber dem deutschen Kaiser vermochte lediglich zu einer kleinen Korrektur der Polenpolitik beizutragen.

Die Lektüre des Buches hinterlässt gemischte Gefühle. Erstens ist es im Übermaß angefüllt mit Zitaten, die – ohne Verlust an Qualität – reduziert oder separat im Quellenverzeichnis hätten untergebracht werden können. Unserer Meinung nach begründen allzu viele Zitate dieselben Thesen. Zweitens lässt sich nicht nachvollziehen, warum die Narration dieser Studie im März 1918, mit dem Frieden von Brest-Litowsk, endet, denn dafür gibt es keine plausible Begründung. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs im Westen und bis zum Zerfall der Habsburger- und der Hohenzollernmonarchie hielt ein heftiger und intensiver Diskurs in der polnischen legalen und illegalen Presse noch einige Monate an. Drittens lässt sich der Schlüssel nicht entziffern, nach dem die Verfasserin die Zitate dem Haupttext und den Anmerkungen zugeordnet hat. Außerdem hat man den Eindruck, dass die Autorin die Quellen manchmal wortwörtlich nimmt und zu unkritisch verwendet. Zum Beispiel werden auf den Seiten 284 (Anmerkung 104) und 288 (Anmerkung 122) Nachrichten aus dem Amsterdamer Telegraphen zitiert, der bestimmt keine zuverlässige Quelle für die Geschichte Polens in den Jahren 1914 bis 1918 war, zumal die Zeitung keinen Korrespondenten in Polen hatte. Die Gräueltaten, die die k.u.k. Soldaten in den ersten Septembertagen 1914 an den polnischen Bauern in der Umgebung von Lublin verübten, führten nicht zur Abkühlung der Sympathien der Bewohner Kongresspolens für die Donaumonarchie (S. 118), weil es dort solche Stimmungen auch vorher nicht gab.

Die Proportionen zwischen den Kapiteln lassen etwas zu wünschen übrig. Beispielsweise umfasst die Beschreibung der Wirtschaftspolitik der beiden Besatzungsmächte fast dreißig Seiten, was im Hinblick auf das im Titel angegebene Thema als etwas zu lang und teilweise auch als überflüssig erscheint. Unseres Erachtens ist das Verhältnis zwischen dem Haupttext und den Anmerkungen ebenfalls nicht ausgewogen – durch die ständigen Verweise auf die Fußnoten wird das konzentrierte Lesen erschwert. Muss unbedingt fast jeder Satz mit einer Anmerkung versehen werden?

Der Anhang mit vier Dokumenten wäre wohl auch verzichtbar gewesen, da im Haupttext und in den Anmerkungen ja schon Hunderte von Quellenfragmenten, sogar mit deutscher Übersetzung, zu finden sind. Dagegen ist das Register von politischen Parteien, Organisationen, Institutionen und Pressetiteln sehr hilfreich – auch für den polnischen Leser. Im Literaturverzeichnis fehlen zwei vielgelesene und meinungsbildende Zeitungen, nämlich Kurier Warszawski und Gazeta Grudziądzka. Darüber hinaus vermisst man dort ein paar neuere, teilweise wichtige Monografien wie die von Jan Lewandowski, Damian Szymczak, Tomasz Kargol oder Jerzy Z. Pająk. Generell betrachtet ist das russische Teilungsgebiet im Vergleich mit dem preußischen und dem österreichischen überrepräsentiert, sowohl im Haupttext als auch bei der Quellenauswahl. Am Rande sei noch eine kleine Korrektur angebracht: Es heißt Zagłębie DąbrowskiestattZagłąb Dabrowski“. Trotz ihres gewaltigen Umfangs und der interessanten Thematik erscheint uns die Studie von Thakur-Smolarek nicht vollständig ausgereift und in ihrer Konzeption nicht ganz bis zum Ende durchdacht.

Piotr Szlanta, Warschau

Zitierweise: Piotr Szlanta über: Keya Thakur-Smolarek: Der Erste Weltkrieg und die polnische Frage. Die Interpretationen des Kriegsgeschehens durch die zeitgenössischen polnischen Wortführer. Münster, Berlin, Wien [usw.]: LIT, 2014. 638 S. = Osteuropa: Geschichte, Wirtschaft, Politik, 48. ISBN: 978-3-643-12777-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Szlanta_Thakur-Smolarek_Der_Erste_Weltkrieg_und_die_polnische_Frage.html (Datum des Seitenbesuchs)

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