Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 668-670

Verfasst von: Piotr Szlanta

 

Robert Spät: Die „polnische Frage“ in der öffentlichen Diskussion im Deutschen Reich, 1894–1918. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2014. X, 477 S. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 29. ISBN: 978-3-87969-386-3.

Die deutsch-polnischen Beziehungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stoßen bei Historikern weiterhin auf Interesse. Die politische Debatte war bereits nach 1918 mühelos in eine historische Debatte übergegangen, die aber schon vor dem Zweiten Weltkrieg wie auch noch danach sehr politisiert war. Es zeigt sich jedoch, und Späts Buch ist ein Beweis, dass trotz dieser langen Forschungstradition unser Wissensstand sich noch um etliche neue Feststellungen erweitern lässt.

Die Zeitzäsuren sind deutlich gesetzt und inhaltlich begründet. Spät beginnt seine Erzählung mit dem Fiasko einer deutsch-polnischen Übereinkunft, die polnische konservative Kreise nach Bismarcks Entlassung mit der neuen Reichsregierung zu treffen versucht hatten. Seine Ausführungen schließt er mit Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Wiedererrichtung eines polnischen Staates, womit in den deutsch-polnischen Beziehungen und der ihr gewidmeten öffentlichen Debatte ein völlig neues Kapitel begann. Späts Ergebnisse beruhen auf einer reichhaltigen und differenzierten Quellenbasis, d. h. auf Zeitungsartikeln, Parlamentsdebatten, Broschüren, Streitschriften, offenen Briefen, Denkschriften und Erinnerungen. Spät berücksichtigte auch – hauptsächlich in Berlin befindliche – Archivalien, darunter eine Sammlung von Presseausschnitten des Bunds der Landwirte sowie verschiedener Organe des preußischen Staatsapparates.

Im ersten Teil des Buchs werden die beiden Schlagworte analysiert, die wohl am häufigsten in der Debatte fielen: „polnische Bedrohung“ und „Hakatismus“. Anschließend folgt die Debatte um die sogenannten „Vorgänge in Wreschen“ 1901, die Schulstreiks in den Jahren 1906 und 1907, die Ansiedlungsnovelle von 1904, die Vereinsgesetze von 1908, das Enteignungsgesetz aus demselben Jahr und seine Anwendung ab dem Jahr 1912. Der zweite, umfangreichere Teil ist dem Ersten Weltkrieg gewidmet. Öffentlich debattiert wird u. a. darüber, wie sich die Polen dem „Großen Krieg“ gegenüber verhielten, wie ihr Verhältnis zu den Mittelmächten und zu Russland war, über die Zukunft der polnischen Gebiete nach dem Krieg und die Notwendigkeit, den Kurs gegenüber den Polen in Preußen zu korrigieren.

An der Debatte beteiligten sich zwei Gruppen. Konservative und Nationalliberale sprachen sich hauptsächlich dafür aus, den restriktiven Kurs beizubehalten, den Bismarck begonnen hatte. Sie unterstrichen die Notwendigkeit, das bedrohte Deutschtum zu verteidigen. Dabei sollte das Bestehen einer demographisch dynamischen und wirtschaftlich erfolgreichen Minderheit, die ihren kulturellen und politischen Separatismus pflegte, eine Integration in die übrige Gesellschaft verweigerte und der Regierung feindlich gesonnen war, schließlich im krassen Gegensatz zur deutschen Staatsraison stehen und allein durch ihre Existenz den deutschen Nationalstaat bedrohen. Nach Einschätzung der beiden genannten Milieus bewiesen die Polen Böswilligkeit und spielten auf Zeit, wobei ihnen eine „Versöhnungskomödie“ helfen sollte.

Die Gegner der Regierungspolitik, zu denen das katholische Milieu aus der Zentrumspartei, Sozialdemokraten, Linksliberale und zum Schluss die polnischen Parlamentarier im Reichstag und im Preußischen Landtag zählten, waren der Ansicht, die Frage der nationalen Zugehörigkeit, Sprache und Religion müsse jeder für sich selbst entscheiden. Unbeschadet der ideellen Herkunft war man allgemein der Ansicht, dass, solange Angehörige nationaler Minderheiten loyal gegenüber der Dynastie und dem Staat waren, diese deren Definition der Gruppenidentität nicht zu interessieren habe. Ihrer Ansicht nach waren Polen nicht anders zu behandeln als die Untertanen deutscher Nationalität und nicht etwa aufgrund ihrer Nationalität zu diskriminieren.

Wie Spät in der Einleitung seiner Arbeit hervorhebt, liegt deren „Schwerpunkt auf den deutschen und polnischen Verständigungsbefürwortern“ (S. 3, 20). Da diese keinerlei Einfluss auf die Entscheidungen der Regierungen hatten, bemühte sich ein Teil von ihnen, dieses Manko dadurch auszugleichen, dass er sich intensiv an der Debatte beteiligte. Man verteilte die Akzente verschieden auf verfassungsrechtliche, konfessionelle, moralische oder ökonomische Fragen und nahm oft die Ironie zur Hilfe (S. 109, 122, 143, 233). Eine große Rolle spielte dabei der Appell an Emotionen und ans Nationalgefühl. Besonders wertvoll an Späts Arbeit ist, dass sie zeigt, wie mitunter hauptsächlich Deutsche eine sehr heftige Debatte um die „polnische Frage“ führten. Spät berücksichtigt natürlich Äußerungen polnischer Politiker, Journalisten, Publizisten und Intellektueller in deutscher Sprache, die auf die deutsche öffentliche Meinung einwirken sollten. Interessanterweise kritisierten viele deutsche Bewohner der Ostprovinzen die amtliche Polenpolitik und forderten, den Nationalitätenkonflikt abzuschwächen und auf die Ausnahmegesetzgebung gegen ihre polnischen Nachbarn zu verzichten (S. 124, 113, 257).

Mit Kriegsbeginn 1914 änderte sich der Kontext des Diskurses völlig. In den ersten beiden Kriegsjahren überwogen die Verständigungsbefürworter, was auch an der Zensur lag, die Texte verhinderte, die den Binnenkonflikt verschärften und die Illusion eines Burgfriedens gefährdeten. Als unabänderliche Bedingung für eine Verständigung mit den galt die Anerkennung der Unverletzbarkeit der Ostgrenze des Deutschen Reiches. Das Interesse an der polnischen Frage in der öffentlichen Debatte in Deutschland erreichte seinen Höhepunkt, als im Herbst 1916 ziemlich überraschend in der Zwei-Kaiser-Proklamation vom 5. November 1916 ein Königreich Polen erwähnt wurde. Allerdings folgte die Ernüchterung auf dem Fuß. Angeblich bewiesen die Polen Undankbarkeit und mangelndes Staatsverständnis. In den Jahren 1917–1918 gaben die Nationalisten wieder den Ton an. In der Debatte tauchten erneut die tief verwurzelten antipolnischen Stereotypen auf, denen, wie sich herausstellte, nun auch Katholiken und linke Kreise huldigten. Die unterschiedlichen Erwartungen und insbesondere die verschiedenen territorialen Interessen erwiesen sich als zu groß für einen sinnvollen Kompromiss. Folglich waren die Gesellschaften und die Bevölkerung beider Staaten nach 1918 zutiefst entzweit.

Spät hat Recht, wenn er feststellt, dass sich nicht sagen lässt, wie diese Debatte auf die Ansichten der deutschen Gesellschaft einwirkte (S. 257). Er fand auch keinen kausalen Zusammenhang zwischen der öffentlichen Debatte über die polnische Frage und dem politischen Entscheidungsprozess (S. 400). Das war auch aus zwei Gründen gar nicht möglich. Erstens erlaubten ihm seine Quellen das nicht. Zweitens unterlag die Regierung im Wilhelminischen Deutschland keiner parlamentarischen Kontrolle, sondern war nur dem Kaiser verantwortlich. Die Ansichten der Parlamentarier oder Publizisten konnten die Entscheidungen der Herrschenden nur indirekt beeinflussen. Inwieweit das hier der Fall war, ist sehr schwer festzustellen und durch Quellen zu belegen.

Meines Erachtens behandelt Robert Spät allerdings die Pressestimmen aus der Kriegszeit nicht kritisch genug. Zwar handelte es sich um die Ansicht ihrer Autoren, aber gleichzeitig waren sie auch beeinflusst von Selbstzensur und Kriegspropaganda. Zum Beispiel lässt er die Information, dass die Warschauer sich angeblich über den Einzug deutscher Truppen in ihre Stadt gefreut hätten, ohne Kommentar (S. 186). Falsch ist auch die Annahme, das Polnische Nationalkomitee in Warschau habe auf die Mittelmächte gesetzt (S. 174). In der Fachliteratur wurden die Arbeit von Paweł Brudek (Paweł Brudek: Rosja w propagandzie niemieckiej podczas I wojny światowej w świetle „Deutsche Warschauer Zeitung“ [Russland in der deutschen Propaganda während des Ersten Weltkriegs in der „Deutschen Warschauer Zeitung“]. Warszawa 2010) sowie ein Artikel des Rezensenten (Piotr Szlanta: Der Glaube an das bekannte Heute, der Glaube an das unsichere Morgen. Die Polen und der Beginn des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 61 [2013] 3, S. 411–432) übergangen. Desgleichen benutzte Spät auch nicht die klassische Darstellung von Wojciech Wrzesiński (Wojciech Wrzesiński: Sąsiad czy wróg? Ze studiów nad kształtowaniem obrazu Niemca w Polsce w latach 1795–1939 [Nachbar oder Feind? Aus Untersuchungen zur Entstehung des Deutschen-Bilds in Polen, 1795–1939. Wrocław 1992), die ebenfalls sein Thema berührt.

Abschließend ist festzustellen, dass Späts Monographie unser Wissen trotz der bereits sehr umfangreichen Literatur noch erweitern konnte – einmal zum Thema der komplizierten deutsch-polnischen Beziehungen um die vorletzte Jahrhundertwende und vielleicht sogar noch mehr zur politischen Kultur Deutschlands in diesem bewegten Zeitraum.

Piotr Szlanta, Warszawa

Zitierweise: Piotr Szlanta über: Robert Spät: Die „polnische Frage“ in der öffentlichen Diskussion im Deutschen Reich, 1894–1918. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2014. X, 477 S. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 29. ISBN: 978-3-87969-386-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Szlanta_Spaet_Die_polnische_Frage.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2018 by Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Piotr Szlanta. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.