Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 339-340

Verfasst von: Gerd Stricker

 

Vera F. Ševcova: Pravoslavie v Rossii nakanune 1917 goda. Perevod s anglijskogo jazyka E. Itės i V. Ševcova pod nabljudeniem D. M. Bulanina. S.-Peterburg: Bulanin, 2010, 485 S., Abb. ISBN: 978-5-86007-633-4.

Es handelt sich bei diesem russischen Titel um die Übersetzung einer in den USA entstandenen Studie: Russian Orthodoxy on the Eve of Revolution(Oxford University Press 2004). Nach Abschluss ihrer Studien (Yale University, New Haven) hatte die Autorin 1988/89 an der Geistlichen Akademie in Leningrad und dann, nach dem Ende der Sowjetunion, an einer Vielzahl russischer Archive arbeiten und dahin nicht gesichtete Quellen benutzen können. In diesem Buch (und auch in anderen Arbeiten) geht es Ševcova immer wieder um die Frage, was das Wesen der (orthodoxen) Kirche ausmache, was es eigentlich bedeutet,zur Kirche zu gehören.

Mit dieser Studie reiht sich die Autorin in die wachsende Zahl jener Forscher ein, die seit dem Ende der Sowjetunion ihr besonderes Interesse darauf richten, in welchem inneren Zustand sich die Russische Orthodoxie vor dem Oktoberumsturz von 1917 befand; denn als Staatskirche war sie ja ein untrennbarer Bestandteil des zarischen Regimes gewesen. Im Unterschied zu anderen Autoren nähert sich Ševcova dieser Frage nicht nur von sozialen, politischen und historischen, sondern mehr noch von innerkirchlichen und theologischen Positionen. Ihre akademischen Abschlüsse (M.Phil., Ph.D.) bieten eine solide Basis für diese breit angelegte Studie, in deren Mittelpunkt die Autorin die Laien (mirjane) und die Gemeinde (obščina) stelltund nicht, wie bisher meist üblich, die Geistlichkeit mit Bischöfen und Priestern bzw. die Kirche als politische Größe. Auf sympathische Weise lässt die Autorin spüren, dass ihre Aussagen und Schlussfolgerungen in besonderem Maße von ihrem persönlichen orthodoxen Glauben getragen sind.

Ševcova geht von der Tatsache aus, dass das Christentum, und damit auch die Orthodoxie, auf der Gemeinde und auf dem gläubigen Volk gründenicht aber auf Bischöfen und Priestern. Um darzulegen, wie die Russische Orthodoxe Kirche vor 1917 wirklich funktionierte, zeigt sie auf, wie die Laien die christliche Botschaft im Alltag der orthodoxen Gemeinden in Russland praktizierten (Rituale, kirchliches Brauchtum, innergemeindliche Beziehungen usw.); theologische und dogmatische Konstrukte interessieren bei dieser Fragestellung kaum. Leitmotiv dieser Darstellung ist die Frage, wie im Rahmen einzelner Projekte kirchlicher Reformen, deren Notwendigkeit fast allgemein anerkannt wurde, das Laienelement berücksichtigt worden ist (oder nicht). Allein die Auffächerung schon dieses Komplexes durch die Autorin ermöglicht tiefe Einblicke in das innere Leben der Kirche.

Die Autorin nähert sich ihrem Themadem gemeindlichen Alltagüber sechs zentrale Fragenkomplexe: das Volk Gottes (die Laien); Gotteshaus; Kapelle; kirchliche Feiertage; Ikonen; Gottesmutter-Ikonen. Mit Hilfe dieser verschiedenen Zugänge zeichnet sie ein überaus differenziertes Bild der Russischen Kirche, das in vieler Hinsicht nicht dem bisher üblichen entspricht. Gewissdie Russische Kirche war mit ihrem dem Staatskirchentum verpflichteten Episkopat erstarrt; dieser bildete eine unbewegliche Bürokratie und entsprach keineswegs dem urchristlichen Bild einer seelsorgerlichen Institution. Trotzdem funktionierte in der Stadt und vor allem auf dem Land an der Basis (Priester und Laien) die christliche Gemeinschaft noch immer, ungeachtet aller Politisierung und Bürokratisierung der Kirchenführung. Indem die Autorin die o.g. zentralen Komplexe innerkirchlichen Lebens nach allen Seiten hin ausleuchtet und die bedeutendsten zeitgenössischen Autoritäten ausführlich einander gegenüberstellt, gelingt ihr eine ungemein differenzierte, keineswegs negative Darstellung des inneren Zustandes der Russischen Orthodoxen Kirche am Vorabend der Revolution.

Gerd Stricker, Zürich

Zitierweise: Gerd Stricker über: Vera F. Ševcova: Pravoslavie v Rossii nakanune 1917 goda. Perevod s anglijskogo jazyka E. Itės’ i V. Ševcova pod nabljudeniem D. M. Bulanina. S.-Peterburg: Bulanin, 2010, 485 S., Abb. ISBN: 978-5-86007-633-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stricker_Sevcova_Pravoslavie_v_Rossii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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