Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  462-463

 

Cornelia Schlarb Tradition im Wandel. Die evan­gelisch-lutherischen Gemeinden in Bessara­bien 18141940. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. IX, 669 S., Tab., 2 Ktn. = Studia Transylvanica, 35. ISBN: 978-3-412-18206-9.

Das Fürstentum Bessarabien war im Zuge des Friedensvertrages von Bukarest (28.5.1812) vom Osmanischen an das Russische Reich gekommen. Da nach dem Abzug des türkischen Bevölkerungsteils der Süden Bessarabiens teilweise entvölkert war, lud Zar Alexander I. bulgarische und griechische Kolonisten zur Ansiedlung ein; zudem lenkte das russische „Vormund­schaftskontor für Ausländer“ (Kontora ope­kunstva innostrannych) von den ca. 40.000 nach „Südrussland“ berufenen deutschen Kolonisten zwischen 1813 und 1827 etwa 9100 nach Bessarabien. 1940 wurden über 93.500 Bessarabiendeutsche „heim ins Reich“ geholt; in 130 Jahren hatten sie mehr als 160 Dörfer aufgebaut. Die Volksgruppe bestand zu mehr als 90 % aus Lutheranern, die in der von Zar Nikolaus I. 1832 dekretierten „Ev.-luth. Kirche in Russ­land“ die „1. Südrussische Propstei“ im St. Petersburger Konsistorialbezirk bildeten. – 1918 erfolgte der Anschluss Bessarabiens an Rumänien.

In dieser Studie geht es nun um die Frage, wie sich dieser Propsteibezirk der Ev.-Luth. Kirche Russlands nach 1918 in Großrumänien entwickelt hat. Die Zwischenkriegszeit war hier geprägt von Rumänisierungsbestrebungen, denen sich nationale und konfessionelle Minderheiten zur Sicherung ihrer Identität entgegenzustellen suchten, indem die einzelnen Gruppen eng zusammenrückten. Vor allem aber übte die Bukarester Regierung Druck auf die Minderheiten aus, zentrale Organisationen zu bilden: Diese sollten der rumänischen Administration die Len­kung und Kontrolle der Minderheiten erleichtern.

Die sehr unterschiedlichen lutherischen Kirchentümer in Großrumänien – Bessarabien (66.000 Seelen), Bukowina (14.700), die Dekanate Bukarest (13.000) und Banat (6500) –, denen die meisten Deutschen in Rumänien zugehörten, schlossen sich bis 1921 unter Führung der Siebenbürgisch-sächsischen Kirche (mit 231.000 Seelen) zur „Evangelischen Landeskirche A.B. in Rumänien“ (331.500 Seelen) zusammen. Viele Pastoren in Bessarabien hatten gehofft, in Rumänien ein eigenes, den bessarabischen Verhältnissen gemäßes Kirchenwesen auf­bauen zu können – und waren nun dem Bischof in Hermannstadt unterstellt. Immerhin beließ die Kirchenordnung von 1927/1937 den einzelnen Gliedkirchen eine weitreichende Autonomie, auch den lutherischen Gemeinden in Bessarabien – dem „Ev.-luth. Kirchenbezirk Tarutino“. Die Jahre zwischen 1920 und 1940 bildeten eine Zeit oft widerstrebenden Zusammenwachsens, das 1940 längst nicht zum Abschluss gekommen war.

Die Autorin breitet die widersprüchlichen Entwicklungen jener Jahre akribisch in geradezu enzyklopädischer Breite aus: Dokumente, Satzungen, Statistiken, Synodenprotokolle, Zeitungsausschnitte, Briefe usw. werden oft in extenso dargeboten; kirchliche Strukturen, Personalbewegungen und Gehälter kirchlicher Mitarbeiter, die finanzielle Ausstattung der Kirche wer­den dargelegt. Das deutsche Schulwesen hat­te im Zarenreich den Kirchgemeinden unterstanden – so bildet die Überführung der Schulen in das rumänische Schulsystem (bzw. das Ringen um den Erhalt der kirchlichen Trägerschaft) ein wichtiges Kapitel (S. 160–181). Hoch spannend sind die Ausführungen über das Eindringen (bzw. Nicht-Eindringen) von NS-Gedankengut in die Kirche (S. 215–242).

Im Rahmen dieser eher abstrakten Darstellung vermisst man gelegentliche Blicke darauf, wie sich das Alltagsleben der Bessarabiendeutschen im rumänischen Umfeld in der Praxis gestaltete. Irreführend ist der im Titel angegebene Zeitraum: 1814–1940. Im Zentrum der Studie ste­hen die Jahre 1918 bis 1940 (S. 77–669). Im überbordenden Literaturverzeichnis fehlen wich­tige, insbesondere russischsprachige Arbeiten zum Thema.

Der engagierten Autorin bessarabiendeutscher Herkunft, die 65 Jahre nach der „Rückführung“ der Bessarabiendeutschen diese umfassende Ge­schichte ihrer Kirche für die Zwischenkriegszeit erarbeitet hat, gebührt ungeachtet der genannten Kritikpunkte ganz besonderer Dank.

Gerd Stricker, Zürich

Zitierweise: Gerd Stricker über: Cornelia Schlarb Tradition im Wandel. Die evangelisch-lutherischen Gemeinden in Bessarabien 1814-1940. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. IX. = Studia Transylvanica, 35. ISBN: 978-3-412-18206-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 462-463: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stricker_Schlarb_Tradition_im_Wandel.html (Datum des Seitenbesuchs)