Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 135-137

Verfasst von: Gerd Stricker

 

Robert H. Greene: Bodies Like Bright Stars. Saints and Relics in Orthodox Russia. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010. XII, 299 S., 16 Abb. ISBN: 978-0-87580-409-5.

Dieser metaphorische Titel ziert eine spannende, mit zahlreichen Zitaten und Fallbeispielen belegte Studie, die einer der fragwürdigsten anti-orthodoxen Aktionen der Bolschewiki gewidmet ist: der Kampagne der gewaltsamen Öffnung von Heiligenschreinen (19191921). Der Verfasser weist eingangs darauf hin, dass sich im 20. Jh. westliche Forschungen zur russischen Kirchengeschichte auf die Beziehungen zwischen russischem Staat (vor und nach 1917) und Orthodoxer Kirche konzentriert hätten. Der nach dem Ende der Sowjetunion mögliche Zugriff auf bisher unzugängliche Akten biete nun die Möglichkeit, sich auch anderen – etwa innerkirchlichen – Themen zuzuwenden (etwa der Frömmigkeitsgeschichte, der religiösen Kultur und Glaubenspraxis, sozialen Problemen in der Kirche).

Der Verfasser versteht diese Studie als Versuch gerade in dieser Richtung: Eingangs vermittelt er fesselnde Einblicke in die vielfältige Praxis der Heiligenverehrung im Russland des 19. und beginnenden 20. Jh.; damit bietet er den frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergrund, vor dem sich die Kampagne der gewaltsamen Öffnung der Heiligenschreine, die Exhumierungs-Kampagne der Bolschewiki, vollzog. Die orthodoxen Russen lebten in Selbstverständlichkeit und Liebe zusammen mit ihren Heiligen; der persönliche Heilige begleitete ihren Alltag: Man sprach im Gebet mit ihm, erflehte Lebensrat und ließ sich von ihm leiten. Der freundschaftliche, ja intime Umgang mit dem Heiligen wurde durch Berührung (Küssen) seiner Gebeine und seiner Kleidung intensiviert. Es ging dabei zwar immer auch um die spirituelle Nähe zum jeweiligen Heiligen, noch mehr aber ging es um Wunder, die dieser Heilige bewirken sollte: Heilung von Krankheit und Gebrechen, Hilfe bei zwischenmenschlichen Problemen; seit Ende des 19. Jh. wird die Hilfe der Heiligen zunehmend auch aus wirtschaftlicher Not (Schulden, Arbeitslosigkeit usw.) erfleht.

Die offizielle russisch-orthodoxe Publizistik hatte seit dem ausgehenden 19. Jh., namentlich in Broschüren für das Volk, die Unversehrtheit/Unverwestheit (netlenie) des Leibes der Heiligen als zentrales Kriterium für wahre Heiligkeit postuliert. Das fromme Volk hat diesen Kult der „Unversehrtheit“ der Gebeine der Heiligen allerdings nicht weiter verinnerlicht – für die Gläubigen offenbarte sich Heiligkeit vor allem in Wundern.

Die Bolschewiki gingen natürlich davon aus, dass die Leiber der Heiligen genauso verwest seien wie die von Nicht-Heiligen. Den Gegensatz zwischen der Doktrin der Kirche von der Unversehrtheit der heiligen Leiber und dem tatsächlichen Zustand ihrer Verwesung suchten die  Bolschewiki für ihre Propaganda zu nutzen. Die Orthodoxe Kirche sollte lächerlich gemacht und geschwächt werden. Man müsse dem frommen Volk nur vorführen, dass der Heiligenkult nichts anderes sei als Betrug der geldgierigen Priesterschaft, die an der Heiligenverehrung ein Vermögen verdiene – dann würden sich die Gläubigen voll Abscheu von der Kirche abwenden.

Die Exhumierungs-Kampagne erfolgte im Rahmen des Dekrets über die „Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“ (23.1.1918); offiziell beschlossen wurde die Kampagne allerdings erst am 14. Februar 1919. Begründet wurde sie nicht allein mit ihrem ‚pädagogischen‘ anti-religiösen Aspekt. Mehr noch sollte die Entzauberung der Heiligen den endgültigen Bruch mit der politischen und sozialen Ordnung des Zarenreiches symbolisieren, zu dessen zuverlässigsten Pfeilern die Orthodoxe Kirche gehört hatte. Die Kampagne bot den Bolschewiki einen geeigneten Vorwand, den Druck auf die Orthodoxe Kirche noch zu erhöhen. Emeljan Jaroslavskij, Nikolaj Bucharin und Evgenij Preobraženskij unterstützten die Kampagne, die der Sektion VIII des Narkomjust (Justiz- und Innenministerium) und dessen Leiter, P.A. Krasikov, zugeordnet wurde. Da die Exhumierungen anfangs eher Plünderungen glichen und Beschwerden beim Narkomjust eingingen, wurde den Kommissionen vor Ort ein taktvolles Vorgehen anempfohlen; auch Geistliche hatten nun an den Exhumierungen teilzunehmen.

Dass die Kampagne erst im Februar 1919 abgesegnet wurde, signalisiert, dass die Sowjetführung ihr – trotz der mächtigen Befürworter – keine hohe Priorität einräumte. Angesichts des Bürgerkrieges, der allgemeinen Not und der enormen Schwierigkeiten, das öffentliche Leben neu zu organisieren, hatten die Behörden in der Provinz anderes zu tun, als öffentliche, effektvolle Exhumierungen von Heiligen zu inszenieren: Sie mussten Presse, Photographen und Filmteams mobilisieren, die die makabren Szenen propagandistisch ausschlachten sollten; Vortrags- und Diskussionskader sollten aufgeboten und nicht zuletzt mussten Milizabteilungen beordert werden, die für Ordnung sorgen sollten. – Viele der personell unterbesetzten und ständig überlasteten Behörden drückten sich davor, die entsprechenden Weisungen aus Moskau zu befolgen.

Zwischen 1917 und 1927 wurden mehr als 70 Schreine geöffnet, die meisten in den Jahren 1919 und 1920. Als relativ unverwest erwiesen sich nur acht oder neun Leichname; die übrigen Gräber hingegen enthielten nur Staub und Knochen; Heilige, deren Körper der allgemeinen Verehrung zugänglich waren, ìndem ihr Schrein an besonderen Festtagen oder sogar täglich geöffnet wurde, erwiesen sich meist als mit Wolle oder Papier ausgestopft, mit Wachs ‚geflickt‘ oder sonstwie zurechtgemacht. Die Presse veröffentlichte nach jeder Exhumierung effektvoll-schauerliche Photos sowie ganze Serien von Briefen empörter Sowjetbürger, die wegen des Reliquienbetrugs mit der Kirche gebrochen hätten.

Nach der sorgfältig inszenierten Öffnung eines Grabes stellte sich für die lokalen Behörden das Problem, was mit den Reliquien nun geschehen sollte. Erst wurden die Schreine mit ihrem makabren Inhalt öffentlich zur Schau gestellt. Da die Behörden aber keine speziellen Museen einrichten konnten, wurden viele der sterblichen Überreste von Heiligen in die Atheistischen Museen in Moskau und Petrograd überführt; oft auch wurden die Reliquien in ihre Kirchen zurückgebracht; viele Schreine gingen verloren.

Die empörten Leserbriefe in der lokalen „Pravda“ oder in der „Izvestija“ haben aber offenbar nur einen Teil des Gesamtbildes reflektiert. Das Kalkül der Bolschewiki war nämlich nicht aufgegangen. Nach dem ersten Schock über den verwesten Zustand der Gebeine ihrer Heiligen hatte sich das gläubige Volk bald wieder beruhigt: Für die Frommen war eben die Unverweslichkeit gar nicht maßgebend. Anhand zahlreicher Beispiele belegt der Verfasser, mit welchem Eifer, Körpereinsatz und auch Fanatismus die Gläubigen ihre Heiligen gegen die Exhumierungs-Kommissionen verteidigten, wie geschickt sie mit den Behörden (z. T. erfolgreich) verhandelten, damit die Gebeine ihrer Heiligen nicht in ein fernes Atheistisches Museum gebracht würden, sondern zur weiteren Anbetung und zum Wirken von Wundern in ihren Kirchen bleiben könnten. Wurden sie in Museen ausgestellt, pilgerten die Gläubigen eben dorthin und beteten.

Der massive Widerstand der orthodoxen Massenbasis hatte zur Folge, dass die Inszenierung von Exhumierungen immer schwieriger wurde; immer seltener wollten sich lokale Behörden damit belasten. In Eingaben an Narkomjust legten sie dar, dass die Kampagne hinsichtlich der Umerziehung der gläubigen Massen keinen durchschlagenden Erfolg gebracht habe und dass ihre Weiterführung kontraproduktiv sei. Vladimir Bonč-Bruevič, Anatolij Lunačarskij, Michail Kalinin, Avel Enukidze und andere bekundeten seit Mitte 1920 Zweifel an der Aktion. Schließlich wurde in einem „streng geheimen“ Zirkular vom 1. April 1921 die Kampagne offiziell eingestellt (inoffiziell gab es noch einige Exhumierungen): Die lokalen Behörden seien unfähig gewesen, die Aktion kompetent durchzuführen – auch habe sich der Widerstand der Bevölkerung als größer erwiesen als angenommen. In den unruhigen Zeiten von Bürgerkrieg und Hungersnot dürfe man die Masse der Orthodoxen nicht provozieren. – Das war der letzte Sieg der orthodoxen Gläubigen über die Bolschewiki. Im Zuge von Stalins Großen Säuberungen wurde der Widerstand der Gläubigen gebrochen, die Kirche als Institution vernichtet.

Gerd Stricker, Zürich

Zitierweise: Gerd Stricker über: Robert H. Greene: Bodies Like Bright Stars. Saints and Relics in Orthodox Russia. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press 2010. XII. ISBN: 978-0-87580-409-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stricker_Greene_Bodies_Like_Bright_Stars.html (Datum des Seitenbesuchs)

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