Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 347-349

Verfasst von: Anton Sterbling

 

Stephanie Sommer: Postsozialistische Biografien und globalisierte Lebensentwürfe. Mobile Bildungseliten aus Sibirien. Bielefeld: Transcript, 2016. 344 S. = Ethnografische Perspektiven auf das östliche Europa, 2. ISBN: 978-3-8376-3222-4.

Das Buch geht auf eine sehr ordentlich gearbeitete, vom Schroubek Fonds geförderte und an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommene Dissertation im Fachgebiet Europäische Ethnologie zurück. Insofern lassen der Aufbau, das methodische Vorgehen und die Argumentationsweise der Untersuchung auch typische Züge einer solchen kulturwissenschaftlichen Qualifikationsarbeit erkennen. Zugleich geht sie aber durch eigenständige, mitunter literarisch anklingende sprachliche Formulierungen und plastische Gedankenbilder wie auch eine interdisziplinär, nicht zuletzt in den Sozialwis­senschaften gut abgesicherte Literaturgrundlage darüber deutlich hinaus.

Die Einführung (S. 13–21) oder genauer die Heranführung an den Gegenstand und die Anliegen der Arbeit beginnt originell mit einer Analyse eines Putin-Interviews mit Jörg Schönenborn und der Zäsur, die sich durch den Zusammenbruch der Sowjetunion ergab, wobei die Verschiebungen und neuen Verschränkungen im Verhältnis zwischen West und Ost und die Veränderungen des gesamten Koordinatensystems in der Betrachtung globaler Vorgänge und deren Auswirkungen auf Vorstellungs- und Lebenswelten, gleichsam als „zersprungener Spiegel“, anschaulich gemacht werden.

In einem zweiten Schritt erfolgen nähere Darlegungen zur konkreten Fragestellung „globalisierter Lebensentwürfe“ und damit verbunden zum Sample der Untersuchung, das aus zwölf Personen, die in Krasnojarsk Jura studiert und ein Gaststudium an der Universität Passau absolviert haben, besteht. Die Stichprobe wird durch die Berücksichtigung weiterer sozialdemographischer Merkmale näher charakterisiert, wobei allerdings auf den Hinweis einer Mittelschichtzugehörigkeit aller Befragten hätte verzichtet werden können, zumal das zu Grunde gelegte Schichtungskonzept nicht genauer expliziert wird. Die Befragtenstichprobe wird zudem durch drei „lebensgeschichtliche Porträts“ (S. 32 ff.) illustriert und durch die Vorstellung der wichtigsten Forschungsorte Krasnojarsk, Moskau, St. Petersburg und Passau in aller Kürze ergänzt. Sehr aufschlussreich in diesem Kapitel erscheinen die differenziert entwickelten und gut in der relevanten Bezugsliteratur abgesicherten methodischen Überlegungen, die vor allem die Frage der Nähe und Distanz der Forscherin zum Untersuchungsgegenstand betreffen.

Sie werden durch weitere, gut elaborierte theoretische, begriffliche und methodische Ausführungen im folgenden Kapitel ergänzt. In diesem Rahmen erfolgt die Erläuterung zentraler theoretischer Konzepte und Begriffe wie „Lebensentwurf“ in existenzphilosophischer (M. Heidegger, S. Kierkegaard, P. Sloterdijk) und figurations- und struktursoziologischer Weise (N. Elias, P. Bourdieu), wie „Lebenswelt“ bzw. „Alltagswelten“ und „Vorstellungswelten“ in phänomenologischer Anlehnung (E. Husserl, P. Berger / Th. Luck­mann, C. Goehrke), oder wie „Transnationalismusforschung“ in soziologischer Auffassung (L. Pries, U. Beck), oder wie „Multi-sited ethnography“, die jeweils prägnant und zugleich auf die eigenen Untersuchungsanliegen bezogen expliziert werden. Ebenso vermittelt die Verfasserin wichtige Einblicke in die Probleme der Feldforschung und in die angewandten Methoden wie teilnehmende Beobachtung, narratives und Leitfaden-Interview, Mental Map und Online-Beobachtung in sozialen Netzwerken wie auch in die verwendeten qualitativen Auswertungsverfahren.

Die materialen Untersuchungen (S. 83–304) umfassen fünf Kapitel, die sich in zwei Teile untergliedern. Im ersten Teil werden zunächst die realhistorischen Entwicklungen informativ und zutreffend umrissen und das Konzept der Generationen (K. Mannheim, L. Niethammer) eingeführt, um die Ebene der politischen und makrosozialen Geschehnisse mit derjenigen der biographischen Lebensentwürfe der zwischen 1981 und 1985 geborenen Befragten zu verknüpfen – und um diese als Angehörige einer „Zwischengeneration“ und zugleich „neuen Generation junger Russen“ zu kennzeichnen, die den Niedergang und das Ende der Sowjetunion und die Zeit des beschleunigten und chaotischen Wandels der 1990er Jahre, im für ihre Persönlichkeitsformierung und für ihren „Generationenhorizont“ prägenden Jugendalter, erlebten. Dabei werden – aus der Sicht der Verfasserin, die sich darin mit den Befragten allerdings in Übereinstimmung sieht – die sozialwissenschaftlichen Konzepte „Postsozialismus“ und „Transformation“ kritisch hinterfragt. Allerdings wird der analytisch viel tragfähigere, in der Denktradition Max Webers weiterentwickelte Ansatz der „historischen Modernisierungstheorien“ als Alternative dazu nicht in Betracht gezogen, wiewohl dieser einer passenden universalhistorischen Perspektive folgt und aus meiner Sicht auch nicht die theoretischen Einseitigkeiten gängiger Globalisierungstheorien aufweist, die letztlich bevorzugt werden.

In einem zweiten Schritt wird in Kapitel 5 (S. 107–158), der Leitvorstellung von M. Halbwachs und anderen folgend, unter Rückgriff auf Konzepte des „kollektiven“, „kulturellen“ und „kommunikativen Gedächtnisses“ und der dabei zum Tragen kommenden Mechanismen der Erinnerungs- und Verdrängungskultur, das vielschichtige und ambivalente Verhältnis der Befragten zur sowjetischen Vergangenheit und zur Umbruch- und Übergangszeit der neunziger Jahre rekonstruiert. Hierbei werden durch das Prisma subjektiver Brechungen und Relevanzstrukturen, aber auch beständiger kollektiver Erinnerungsmuster, verschiedene Kontinuitäten und Brüche dieser soziokulturell fortwirkenden „Vergangenheiten“ sichtbar gemacht.

Im zweiten Hauptteil (S. 159–304) der materialen Untersuchungen, mit insgesamt drei Kapiteln unterschiedlichen Umfangs, wird sodann eine Erweiterung der Betrachtungsschwerpunkte in die Perspektive der Globalisierung vorgenommen. In einem einführenden, eher kurzen Kapitel (S. 161–175) werden unter Rückgriff auf bekannte Bezugsautoren wie M. Albrow, A. Giddens oder U. Beck das Konzept der Globalisierung sowie die russlandspezifischen Auswirkungen und Erscheinungsformen entsprechender globaler Vorgänge vorgestellt. Es schließt sich eine weitgehend aus der Perspektive der Befragten erfolgende, eingehende und aufschlussreiche Rekonstruktion „globalisierter Lebensentwürfe“ an, in der die Wirkungen globaler Medien, veränderter Bildungsinstitutionen, räumlicher Mobilitätsvorgänge, neuer Erfahrungsräume sowie globaler Entgrenzungen und Vernetzungen als vielfältige Erscheinungsformen des „Handelns auf Distanz“ und der „Entbettung“, aber auch der „Rückbettung“ untersucht werden. In einem weiteren Kapitel (S. 263–304) werden vielfältige Facetten des Kulturtransfers und kulturellen Wandels im Prozess der Globalisierung, von universalen Informationsvorgängen und Wissensbeständen bis zu alltagskulturellen Aspekten der Modekleidung oder des Essens und Trinkens erschlossen und dargelegt.

Ein abschließender Teil fasst wichtige Befunde der Arbeit in einem kurzen Kapitel (S. 305–316) zusammen und betrachtet die exemplarisch vorgestellten „Bildungseliten“ nicht zuletzt als „Modernisierer“ ihrer Gesellschaft im globalen Kontext. Das Literaturverzeichnis lässt eine solide und umsichtige Beschäftigung mit einschlägiger kultur- und sozialwissenschaftlicher Literatur erkennen. Etwas erstaunt, dass Ingrid Oswalds Die Nachfahren des homo sovieticus. Ethnische Orientierung nach dem Zerfall der Sowjetunion, eine der ganz wenigen soziologischen Habilitationsschriften zum Menschentypus und Selbstverständnis im nachsowjetischen Russland, von der Verfasserin übersehen wurde.

Ein kritischer Einwand sollte, bei allen Vorzügen des Buches, die von den interessanten Falldarstellungen und aufschlussreichen Analysen, über die plastische Darlegung bis zur flüssigen Lesbarkeit reichen, doch nicht unterbleiben. Die Verwendung des Begriffs „Bildungseliten“ bleibt nachdrücklich kritisch zu hinterfragen. Er schmückt den Titel des Buches zwar vielleicht etwas auf, ist allerdings der Sache nach unangemessen. Dies erkennt die Verfasserin selbst (S. 28–29), indem sie anmerkt, dass der von ihr verwendete Elitenbegriff sich von der entsprechenden, sozialwissenschaftlich eingeführten und gebräuchlichen Analysekategorie „abgrenzt“. Warum verwendet sie den Begriff dann aber trotzdem und spricht nicht zutreffender von Hochschulabsolventen oder Akademikern? Der von ihr untersuchte Personenkreis hat, wie interessant und mitunter auch erfolgreich die dargestellten und analysierten Biographien auch sein mögen, vorerst nur wenig mit Eliten im sozialwissenschaftlichen Verständnis dieses Begriffes zu tun.

Anton Sterbling, Görlitz

Zitierweise: Anton Sterbling über: Stephanie Sommer: Postsozialistische Biografien und globalisierte Lebensentwürfe. Mobile Bildungseliten aus Sibirien. Bielefeld: Transcript, 2016. 344 S. = Ethnografische Perspektiven auf das östliche Europa, 2. ISBN: 978-3-8376-3222-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Sterbling_Sommer_Postsozialistische_Biographien.html (Datum des Seitenbesuchs)

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