Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 646-649

Verfasst von: Anton Sterbling

 

Professionen, Eigentum und Staat. Europäische Entwicklungen im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Dietmar Müller / Hannes Siegrist. Göttingen: Wallstein, 2014. 333 S. = Moderne europäische Geschichte, 8. ISBN: 978-3-8353-1462-7.

Professionalisierung wird in dem von den Herausgebern Dietmar Müller und Hannes Siegrist verfassten, theoretisch anspruchsvollen „Vorwort“ des Bandes insbesondere im analytischen Zusammenhang mit Vorgängen betrachtet, welche die Eigentumsordnung betreffen und von den Herausgebern als „Propertisierung“ bezeichnet werden, sowie mit auf die Nationalstaatenbildung bezogenen Prozessen, die vielleicht etwas missverständlich „Nationalisierung“ genannt werden. Dies schafft einen Bezugsrahmen, der ein offeneres und weitläufigeres Verständnis des Strukturprinzips der Professionalisierung nahelegt, als dies in der gängigen sozialwissenschaftlichen und soziologischen Forschung üblich ist. Einen anderen, gerade für internationale Vergleiche wichtigen analytischen Grundgedanken des Vorworts bildet die Unterscheidung zwischen „Professionalisierung von oben“ und „von unten“.

Natürlich wäre auch eine andere theoretische Leitvorstellung denkbar gewesen, wie sie zum Beispiel von Wolfgang Schluchter und später auch von mir verfolgt wurde (Wolf­gang Schluchter: Aspekte bürokratischer Herrschaft. München 1972, S. 145 ff.; Anton Sterbling: Eliten im Modernisierungsprozess. Hamburg 1987, S. 236 ff.) und die – in der Denktradition Max Webers – insbesondere auf die Affinitäts- und Spannungsverhältnis­se der Strukturprinzipien der Professionalisierung, bürokratischen Rationalisierung und Demokratisierung in Modernisierungsprozessen abhebt. Die bürokratisch-rationale Ent­wicklung wird im Vorwort wie auch in einigen der Beiträge des vorliegenden Bandes zumindest implizit oder punktuell berücksichtigt. Der Aspekt der Demokratisierung, der zwar einen zentralen Gesichtspunkt der Modernisierung bildet, zur Professionalisierung allerdings in einem aufschlussreichen Spannungsverhältnis steht, wird ebenfalls eher implizit, durch die Betrachtung demokratischer wie auch sozialistischer und postsozialistischer Gesellschaften aufgegriffen, aber nicht systematisch untersucht.

Einen wichtigen, das Vorwort ergänzenden theoretischen Beitrag legt Hannes Siegrist vor, indem er die „professionelle Autonomie“ im Kontext, aus den Spanungsverhältnissen und als Ergebnis unterschiedlicher individueller, gruppenspezifischer und kollektiver Autonomieforderungen und -bestrebungen eingehender analysiert. In Ergänzung zu der für die abendländische Moderne so wesentlichen Wertidee der Autonomie des Subjekts und der individuellen Freiheits- und Menschenrechte stützt sich die Professionalisierung auf eine berufsgruppenbezogene, intermediäre Autonomie, die zwischen Individuen und Staat angesiedelt ist. Diese erhält mithin, gleichsam in abgewandelter Form, ein ständisches Strukturelement in der modernen Gesellschaft. Mit der berufsständischen Autonomie und Selbstorganisation wie auch der Reichweite und Wirkung damit verbundener berufsethischer Prinzipien werden strukturelle Besonderheiten der Professionalisierung im Rahmen verschiedener Rechtsordnungen, Institutionengefüge und staatlicher Herrschaftsordnungen deutlich gemacht, die zugleich unterschiedlichen Modernisierungsvorgängen und Modernisierungsverläufen, also verschiedenen Pfaden der Modernisierung, entsprechen. Zusammen mit dem Vorwort bildet dieser Beitrag den ersten, grundlegenden Teil des Buches.

Im zweiten Teil des Bandes werden vor allem Rechtsberufe behandelt, die neben dem Arztberuf und einigen wenigen anderen zu den im Professionalisierungsprozess zumeist am weitesten fortgeschrittenen professionalisierten Tätigkeiten zählen. Ein gleichsam paradigmatischer Stellenwert kommt dabei dem Aufsatz von Michael Burrage zu, der die Rolle und Bedeutung der Rechtsberufe in einer längerfristigen, historisch-vergleichenden Perspektive, nicht zuletzt im Zusammenhang mit außerordentlichen historischen Ereignissen wie politischen und sozialen Revolutionen untersucht, und dabei schwerpunktmäßig die französische, die russische wie auch die angelsächsischen Entwicklungen in ihren Grundzügen exemplarisch nachzeichnet. Sehr aufschlussreich erscheint auch der Beitrag von Dietmar Müller über Advokaten, Geodäten und Notare in Rumänien zwischen 1830 und 1940. In diesem Text werden nicht nur spezifische historische und politische Rahmenbedingungen entsprechender, durchaus eingeschränkter Professionalisierungsvorgänge aufgezeigt, sondern es wird unter anderem für die Zwischenkriegszeit auch herausgearbeitet, wie unterschiedliche Eigentumsgegebenheiten und Rechtstraditionen im nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen „Großrumänien“ und nicht zuletzt das Vorhandensein eines Grundbuchs und Katasters in Siebenbürgen und das Fehlen dieser Einrichtungen in Altrumänien mit spezifischen Partikularinteressen der genannten Berufsgruppen zusammenhingen. So bildeten die mit dem Grund- und Bodeneigentum zusammenhängenden Rechtsgeschäfte und Rechtsauseinandersetzungen in Altrumänien eine wichtige Pfründe der wachsenden Zahl von Rechtsanwälten, wobei dies wegen der dort gegebenen geringeren Rechtssicherheit auf Grund fehlender Dokumentation der Eigentumstitel zu weitaus höheren Transaktionskosten als in Siebenbürgen führte. Auch der dritte Beitrag dieses zweiten Teils des Buches von Rafael Mrowczynski ist sehr lesenswert. Er betrachtet Rechtsberufe, insbesondere die der Rechtsanwälte und Rechtsberater von Unternehmen, in der Zeit des Sozialismus und Postsozialismus in Polen und in der Sowjetunion bzw. in Russland und lässt dabei nicht nur den besonderen Status der juristischen Berufe zwischen politischer Abhängigkeit und Teilautonomie im Sozialismus deutlich werden, sondern macht auch gesellschaftsspezifische Unterschiede, nicht zuletzt im Hinblick auf wichtige Professionalisierungsaspekte, vor allem nach dem Ende des Sozialismus kenntlich.

Der dritte Teil des Buches versammelt Beiträge über Vermessungsingenieure, Geodäten, Agrarberufe und ähnliche Tätigkeiten wie auch über Industrieberufe, die insbesondere im Zusammenhang mit Fragen der Patentierung und des Patentrechts behandelt werden. Am engsten an der analytischen Perspektive der Professionalisierung ausgerichtet erscheint der kenntnisreiche Beitrag von Manuel Schramm über Vermessungsingenieure in Deutschland und den USA im 20. Jahrhundert. In diesem werden eingehend Berufsfelder und Aufgaben, Aspekte der Ausbildungsstandards und der Lizenzierung, der berufsständischen Organisation wie auch der übergreifenden politischen Ordnungsvorstellungen und Regulierungen behandelt, die die gegebenen gesellschaftsspezifischen Unterschiede plausibel erscheinen lassen. Der Aufsatz von Cornel Micu indes ist viel allgemeiner gehalten, er geht bis ins 19. Jahrhundert zurück und spricht unter anderem das weitgehende Fehlen eines Wirtschaftsbürgertums in Rumänien und die Entwicklung einer für Hochschulabsolventen daher attraktiven Staatsbürokratie im engen Zusammenhang mit der Nationalstaatenbildung an, ebenso die Bedeutung der umfangreichen Bodenreformen nach dem Ersten Weltkrieg und den damit einhergehenden Bedarf an staatlicher Beratung und Regulierung durch Agronomen. Auch die Kollektivierung nach dem Zweiten Weltkrieg und der Anstieg der formalen Bildungsabschlüsse des Leitungspersonals landwirtschaftlicher Betriebe im Zuge der Bildungsexpansion seit den sechziger Jahren werden behandelt. Neben nationalen Betrachtungen geht Micu in seinen Darlegungen exemplarisch auch auf regionale Aspekte der im Landesvergleich eher unterentwickelten Gegend um Brăila ein. Srđan Milošević untersucht die unter dem Einfluss von Ideologie und Professionalität stehende Geodätentausbildung und -tätigkeit im sozialistischen Jugoslawien im Zeitraum 1945 bis 1953, also in der Zeit, als wichtige Weichenstellungen im Hinblick auf einen eigenständigen jugoslawischen Entwicklungsweg erfolgten. Auf die Auseinandersetzungen um Patentrechte, also berufsrelevantes geistiges Eigentum, im 19. Jahrhundert geht der Beitrag von Markus Lang ein. Vor allem mit der fortschreitenden Industrialisierung und der Hochindustrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nahmen in Deutschland die Bedeutung des Patentschutzes wie auch die Bestrebungen, diesen auszuhebeln oder zu unterlaufen, deutlich zu. Wie entsprechende Auseinandersetzungen in ihrem Ergebnis verliefen, wird in dem Beitrag empirisch belegt nachgezeichnet.

Im vierten Teil des Buches liegen die Schwerpunkte der Betrachtungen auf Berufen und Tätigkeiten, die in der Professionalisierungsdiskussion ansonsten eher am Rande stehen, die aber gerade im Hinblick auf ein erweitertes Konzept der Professionalisierung durchaus aufschlussreich erscheinen, nämlich künstlerische Berufe und solche der Kultur- und Medienindustrie. Einiges über Autonomiebestrebungen, Autorenschaft und geistiges Eigentum wie auch politische Systemunterschiede erschließt der informative Beitrag von Dorothea Trebesius über Künstler und insbesondere Komponistenverbände in Frankreich und in der DDR. Augusta Dimou betrachtet zeitbezogen reflektiert die Professionalisierungsbemühungen und ihre Grenzen im jugoslawischen Verlagswesen der Zwischenkriegszeit. Die Drehbuchautoren als Angehörige eines modernen, mehr oder weniger fest in die Kulturindustrie oder die staatliche Propaganda eingebundenen Kreativberufs werden in dem Aufsatz von Juliane Scholz in einer aufschlussreichen Vergleichsperspektive zwischen Hollywood und dem „kommunistischen Europa“, insbesondere der DDR, untersucht. Dabei geht es selbstverständlich auch um die Bestrebungen der Drehbuchautoren, sich möglichst weitreichende individuelle Handlungsspielräume und berufliche Autonomie zu sichern, und um die systemspezifischen Grenzen, die diese Bemühungen jeweils fanden oder finden. Dieser Teil des Buches macht in nahezu allen Beiträgen deutlich, dass die Professionalisierungschancen stets auch und oft weitgehend von den vorherrschenden politischen Ordnungsvorstellungen und dem davon bestimmten Institutionengefüge einer Gesellschaft abhängig erscheinen. Dies gilt auch und nicht zuletzt für künstlerische oder kreative Berufe, deren erfolgreiche Entfaltung eigentlich die uneingeschränkte Geltung der Idee der Freiheit voraussetzt.

Es kann jedenfalls als ein wichtiger Erkenntnisbeitrag dieses Bandes angesehen werden, dass er Professionalisierung als eine wesentliche, oft allerdings verkannte Dimension der historischen Modernisierungsvorgänge aufgefasst und zugleich in ihren komplizierten Spannungs- und Verschränkungsbeziehungen zu anderen Strukturprinzipien eingehender untersucht hat, und zwar sowohl historisch-vergleichend als auch gleichzeitig in ihren verschiedenen berufsspezifischen und institutionellen Ausprägungsformen, wenngleich – wie bei einem Sammelband üblich – sich nicht alle Beiträge im strengen Sinne dem im Vorwort entworfenen analytischen Bezugsrahmen fügen. Dass ein eher offenes Professionalisierungskonzept als Leitfaden dient, erweist sich indes gerade angesichts der historisch-vergleichenden wie auch der systemübergreifenden Anliegen des Bandes durchaus als Vorteil. Nicht nur diese Offenheit, die zum weiteren Nachdenken über Professionalisierung als Aspekt der Modernisierung anregt, macht den Band jedenfalls lesenswert.

Anton Sterbling, Görlitz

Zitierweise: Anton Sterbling über: Professionen, Eigentum und Staat. Europäische Entwicklungen im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Dietmar Müller / Hannes Siegrist. Göttingen: Wallstein, 2014. 333 S. = Moderne europäische Geschichte, 8. ISBN: 978-3-8353-1462-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Sterbling_Mueller_Professionen_Eigentum_und_Staat.html (Datum des Seitenbesuchs)

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