Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 132-134

Verfasst von: Ludwig Steindorff

 

Stefan Rohdewald: Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 905 S., 28 Abb. = Visuelle Geschichtskultur, 14. ISBN: 978-3-412-22244-4.

Wie schon in seiner Züricher Dissertation zur Geschichte der Stadt Polock im heutigen Weißrussland vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert widmet sich Stefan Rohdewald in seiner Passauer Habilitationsschrift einem Thema, das die Brücke vom Mittel­alter bis ins 20. Jahrhundert schlägt. Der Untertitel trifft den Gegenstand genauer. Die „religiösen Erinnerungsfiguren“ sind Personen, die über die ihnen zugeschriebenen Verdienste zu Gedächtnisorten der modernen Nationen Serbien, Bulgarien und Makedonien aufgebaut geworden sind. „Erinnerungsfigur“ erscheint hier als ein Untertyp des lieu de mémoire bei Pierre Nora oder des „Erinnerungsortes“, „Gedächtnisortes“ in der daran anknüpfenden deutschsprachigen Forschung. Sie ist eine Person, die zum Gedächtnisort geworden ist. Mit dem Syntagma „Götter der Nationen“ hingegen wird ein Befund angekündigt, der in der Arbeit weder vorab hypothetisch postuliert noch als Ergebnis präsentiert wird. Selbst im metaphorischen Sinne des All-Überragens hat keine der Erinnerungsfiguren Züge einer Gottheit erlangt, ist etwas wie ein neopaganer Kult um sie entstanden.

Rohdewald ordnet seine Arbeit vorweg in mehrere aktuelle Forschungsdiskurse ein: Verflechtungsgeschichte, Erinnerungskultur, Nationalismus als Religion. Aber unabhängig davon, dass ich den Analyseweg und die gewonnenen Erkenntnisse der Arbeit für überzeugend und berechtigt halte, sei vorweg als für den Leser irritierend angemerkt, dass Rohdewald aktuelle Namen und Schlüsseltermini verschiedener Diskurse geradezu anhäuft und immer wieder einwirft, ohne dass klar wird, inwieweit er hier nur zitiert oder sich mit diesen anderen Positionen identifiziert.

Anscheinend steht Rohdewald – wie auch der Rezensent – dem Begriff der „poli­ti­schen Religion“ skeptisch gegenüber (S. 34–35). Der Begriff bleibt am Ende eine Metapher, die auf die fallweise Ähnlichkeit der gewählten Ausdrucksformen und der gesellschaftlichen Leistungen von Religion und Nationalismus verweist, den ganz großen Unterschied des Vorhandenseins oder Fehlens eines transzendenten Bezuges aber ignoriert. Eine Nation kann sich über ihre Religion und über Gedächtnisorte aus der religiösen Tradition identifizieren, sie selbst wird dadurch keineswegs selbst zu einer Religion, wie unglücklich durch die „Götter der Nation“ suggeriert.

Auch wenn sich Rohdewald in Kapitel A, der Einleitung, auf Otto Gerhard Oexle beruft, halte ich die Aussage, im Heiligenkult werde „der Tote als wirklicher Teilnehmer erlebt“ (S. 30), für nicht begründet. Memoria ersetzt vielmehr die Anwesenheit des Toten. Im Christentum sind die Toten schon fern, nur im Falle des Wunders greift der Heilige (generisches Maskulinum!) unmittelbar in die Welt der Lebenden ein. Er ist vor allem wirkungsmächtiger Fürbitter, so wie es noch 1935 Zar Boris III. über den heiligen Fürsten Boris sagte: „Beschützer und Fürsprecher vor dem Höchsten zum Wohl des bulgarischen Volkes“ (S. 737). Der Aufbau von Kulten um heilige Herrscher, sei es wegen ihres Martyriums, sei es wegen ihrer Lebensleistung, war geradezu eine Christianisierung des Ahnenkultes.

Im ersten Hauptabschnitt, Kapitel B, verfolgt Rohdewald auf breiter Literaturbasis und mit teilweisem Rückgriff auch auf die zentralen Quellen selbst den Aufbau der mittelalterlichen Kulte um Kyrill und Method, Kliment und Naum, Ioann von Rila, Fürst Boris und Zar Petăr von Bulgarien, Johannes Vladimir von Zeta, die heiligen Nemanjidenherrscher und den 1389 auf dem Amselfeld getöteten serbischen Fürsten Lazar von ihren Anfängen zu verschiedenen Zeiten des Mittelalters bis in die frühe Neuzeit. Deutlich werden die Verflechtung der Pflege von Kulten in Bulgarien und Serbien wie auch die fallweise Entlehnung aus Byzanz. In diesem Kapitel vermisse ich nur einen Verweis auf die 1995 in Rom publizierte Arbeit von Boško I. Bojović Lidéologie monarchique dans les hagio-biographies dynastiques du moyen âge serb.

Kapitel B bildet so nicht nur eine in sich ruhende Synthese zu orthodoxen Heiligenkulten in Südosteuropa bis in die osmanische Zeit. Sein großer Wert besteht vor allem  darin, dass sich Rohdewald damit eine solide Grundlage für die folgenden, auf die Moderne bezogenen Kapitel selbst erarbeitet hat. Er kann so, wie er selbst formuliert (S. 12), die „Logik des Wandels von mittelalterlicher religiöser Memoria zu national umgedeuteter Rückbesinnung“ untersuchen. Nur dank der Präsentation in Kapitel B kann er dem Leser verdeutlichen, wie stark die religiösen Erinnerungsfiguren gegenüber ihrem historiographisch rekonstruierbaren Lebensweg und gegenüber dem mittelalterlichen, hagiographisch überhöhten Bild durch ihre Einbindung in den nationalen Diskurs verfremdet worden sind. Jeder Rückverweis ausschließlich auf die Forschungsliteratur zum Mittelalter wäre ein Provisorium geblieben.

In Kapitel C zeigt Rohdewald, wie im Zuge der modernen Nationsbildung und des Aufbaus der Kulturnation die Kulte wiederbelebt, neu gedeutet und instrumentalisiert worden sind, fallweise unter Betonung slavischer Gemeinsamkeit, häufiger zur nationalen Vereinnahmung. Der „Export“ des Kultes um Kyrill und Method von Bulgarien in die noch zum Osmanischen Reich gehörige Landschaft Makedonien war eines der Mittel, die dortige Bevölkerung für ein Bekenntnis zum Bulgarentum zu gewinnen.

Kapitel D, der dritte Hauptabschnitt, gilt der klaren „Nationalisierung“ der einzelnen Kulte in der Zwischenkriegszeit. Für die Nationalkirchen waren sie ein Mittel, sich der ausschließlich säkularen Verortung der Nation entgegenzustellen; die Nation ließ sich sakralisieren. Seit der Norden der historischen Region Makedonien als Ergebnis der Balkankriege zu Serbien und dann Jugoslawien gehörte, gewann dort Kliment von Ohrid an Bedeutung als spezifisch für diesen Raum sprechende Erinnerungsfigur, bis die Erinnerung an sein Wirken schließlich eine wichtige Funktion bei der Affirmation Makedoniens als jugoslawische Teilrepublik und seit 1992 selbständiger Staat gewann.

Als Akteuren der Integration mittelalterlicher Heiliger in das Selbstverständnis der modernen Nation begegnen wir in den Kapiteln C und D Politikern, Malern, Historikern, Dichtern, Geistlichen. Foren ihrer Arbeit sind Kirchen und Klöster, Schulen, das Zeitschriftenwesen, der Literaturmarkt. Entsprechend vielfältig sind auch die Quellen, auf die Rohdewald zurückgreift, wobei die Publizistik im Vordergrund steht. Zur Anschaulichkeit der Erzählung tragen die vielen Zitate in Übersetzung bei.

Bezogen auf Kyrill und Method ergibt sich in Kapitel C und D eine gewisse Verzerrung des Bildes dadurch, dass die Verehrung in der Westkirche mit Bezug auf Kroatien unter dem Aspekt des Jugoslawismus zwar knapp angesprochen ist, die Neurezeption bei Tschechen und Slowaken allerdings, da jenseits des definierten Themas, ausgeklammert bleibt.

Im Rahmen des ausführlichen Schlussteils E registriert der Autor als überzeugenden Befund, dass alle bedeutenden mittelalterlichen Kulte in den slavischen Reichen des orthodoxen Südosteuropa seit dem 19. Jahrhundert für die nationale Sache genutzt worden sind, sie erweisen sich als Elemente der longue durée. Heiligenkulte gehören zum Arsenal der attraktiven Angebote, auf deren Grundlage die modernen Nationen „gebaut“, „geschaffen“ werden, mit Hilfe derer die „Nationen erfunden“ (Benedict Anderson) werden. Allerdings hat sich die Gewichtung verschoben: Kyrill und Method und Kliment haben als Heilige nie eine solche Bedeutung gewonnen, wie ihnen als Begründern der slavischen bzw. nationalen Schriftkultur zugewiesen worden ist.

Nur in Ausblicken geht Rohdewald auf die Ära des Sozialismus und auf die Zeit seit dem Ende des Sozialismus ein. Man mag generell konstatieren, dass die feste „Zuordnung“ von Heiligen zu einer Nation noch deutlicher geworden ist. Wie hier ergänzt sei, gehört zur klaren Abgrenzung Montenegros von Serbien seit der Unabhängigkeit der planvolle Ausbau des Kultes um Johannes Vladimir von Zeta, ablesbar am Bau einer ihm geweihten großen Kirche in der Hafenstadt Bar und an der Aufstellung eines Denkmals für ihn im Park der Uferpromenade.

Im allerletzten Satz des Schlussteils (S. 849, ähnlich schon einmal S. 840) erklärt Rohdewald als ein Ziel seiner Arbeit, die von ihm untersuchten nationalen Diskurse „ihrer vermeintlichen Einzigartigkeit zu berauben“. Dafür hat er im Vorangegangenen immer wieder Vergleiche herangezogen und auf Ähnlichkeiten verwiesen. Die Sakralisierung der serbischen Könige sei kein Einzelfall in der europäischen Geschichte gewesen (S. 801). Man mag dagegenhalten, dass nirgendwo sonst die Konzentration auf den Kult des heiligen Herrschers über mehrere Generationen hinweg so planvoll aufgebaut worden ist – mit der Sakralisierung des Reichsterritoriums durch die Streuung der königlichen Grablegen in immer neuen Klostergründungen. Es sei nicht bestritten, dass auch in der deutschen Nationsbildung Christlichkeit eine Rolle spielte (S. 838), aber Luther als Pendant zu Kyrill und Method zu sehen (S. 839), halte ich für wenig hilfreich. Für einen Teil der neuen deutschen Nation war Luther jemand von ‚den Anderen‘, das Nebeneinander zweier Konfessionen erschwerte und verzögerte die Nationsbildung. Auch irritiert mich, die Pflege des Amselfeld-Mythos in Serbien im 20. Jahrhundert mit den Konzepten eines Alfred Rosenberg in eine Reihe gestellt zu sehen (S. 840). Schon deswegen, weil die angestrebte „Reichskirche“ der Deutschen Christen nur die eine große Konfession in Deutschland erfasst hätte, hinkt der Vergleich mit der Mitwirkung der orthodoxen Kirche in Bulgarien an der nationalen Mobilisierung (S. 829, 838). Und keiner der von Rohdewald zur Illustration angeführten Texte aus dem Bulgarien der dreißiger Jahre nähert sich dem Rassismus in den Äußerungen mancher Deutscher Christen. Trotz aller Gemeinsamkeiten auch religiöser Aufladung der modernen Nationsbildung in ganz Europa bleibt doch die Besonderheit einer ungewöhnlich starken Rolle von religiösen Erinnerungsfiguren als Mittel der Schaffung nationaler Identität gerade im orthodoxen Südosteuropa.

Über die einzelnen Momente meiner Gegenrede hinweg bleibt festzuhalten: Stefan Rohdewald hat eine epochenübergreifende, dicht dokumentierte und konsequent argumentierende Synthese zum Thema der Umformung von Heiligenkulten in Gedächtnis­orte der modernen serbischen, bulgarischen und makedonischen Nation vorgelegt und der vergleichenden Forschung wichtige Impulse gegeben.

Ludwig Steindorff, Kiel

Zitierweise: Ludwig Steindorff über: Stefan Rohdewald: Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 905 S., 28 Abb. = Visuelle Geschichtskultur, 14. ISBN: 978-3-412-22244-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Steindorff_Rohdewald_Goetter_der_Nationen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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