Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 66 (2018), 1, S. 148-150

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Marina Soroka / Charles A. Ruud: Becoming a Romanov. Grand Duchess Elena of Russia and her World (1807–1873). Farnham: Ashgate, 2015. 336 S., 23 Abb. ISBN: 978-1-4724-5701-1.

Großfürstin Elena Pavlovna war eine der bemerkenswertesten russischen Großfürstinnen. Ihr weitgespannter Horizont, ihre breiten Interessen, ihr außerordentlich aktives Engagement in Kultur und Karitas, ihre gesellschaftspolitische Positionierung und natürlich ihr legendärer Salon machen die Württembergerin, die als künftige Gattin von Kaiserbruder Michail Pavlovič im 15. Lebensjahr 1822 nach Russland kam, zu einer der meistgenannten Frauen in Russlands Geschichte des 19. Jahrhunderts. Trotz Bedeutung und Prominenz hat sich die historische Fachwissenschaft der Großfürstin gegenüber erstaunlich zurückgehalten. Sicher, Bruce Lincoln hatte auch zu ihr in Aufsatzform Wesentliches zu sagen; 2011 erschien ein ansprechender Sammelband in St. Petersburg, und schon 1988 hatte eine in der Anlage überschaubare Münchner Dissertation Elena Pavlov­na mit August Franz Freiherr von Haxthausen in einer auf die russische Bauernfrage ausgerichteten Studie zusammengespannt. Dennoch trifft das Wort der beiden Autoren über die Großfürstin als „often mentioned but never explained“ (S. 1) ins Schwarze; ihr Buch erfüllt tatsächlich ein großes Forschungsdesiderat.

Die Herangehensweise ist dabei auf geradezu erfrischende Weise konventionell: Keine langatmigen Explikationen über die konstruktivistischen Fallstricke biographischen Arbeitens, keine sich absichernden Selbstrelativierungen, keine ausgedehnten Belesenheitsvorführungen, keine Entschuldigungen, dass das Ausgeführte selbstredend nur eine Ansammlung von Topoi, Narrativen und Konstrukten sei. Stattdessen eine informative, material- und detailreiche biographische Darstellung im klassischen Sinne, von der Kindheit bis zum Tode, strukturiert, je nach Erfordernis, nach persönlichen Stationen oder großem historischen Kontext. Dabei wird der spannende Lebensweg der Charlotte von Württemberg, Nichte von König Wilhelm II. und Tochter des sekundogeborenen, historiographisch schlecht weggekommenen Paul, samt den vielschichtigen Zeitumständen auf sehr plastische Weise erzählt: von Charlottes durchwachsener Kindheit, ihrer Verlobung mit der ‚großen Partie‘ aus dem Hause Romanov, ihrer Umtaufung zur orthodoxen Elena Pavlovna über die unglückliche Ehe mit dem früh verstorbenen Michail Pavlovič, der sie nie geliebt hatte und mit dem sie dennoch gemeinsam vier ihrer fünf Töchter zu Grabe tragen musste, bis hin zu den einsam-bitteren, zurückgezogenen Spätjahren und dem Tod 1873 in St. Petersburg.

Parallel dazu nimmt das Buch immer wieder die Lebenswelten der Protagonistin in den Blick: die Höfe in Stuttgart und St. Petersburg, das dynastische Umfeld hier wie dort, das nachnapoleonische Europa, das nikolaitische Russland, die Krise des Krim-Krieges und ihre Überwindung im Zeitalter der Großen Reformen. Breitester Raum gebührt hier selbstredend Elena Pavlovnas in seiner Intensität ungewöhnlichem Engagement auf verschiedenen Sektoren. Es sind insbesondere vier Säulen, die das Wirken der Großfürstin über das Durchschnittsniveau anderer eingeheirateter Romanov-Gattinnen im 19. Jahrhundert heben: 1. Ihr „cabinet rouge“ im Michajlovskij-Palast wurde seit den vierziger Jahren zu einer Begegnungsstätte aristokratischer Hochkultur, künstlerischer Prominenz und intellektueller Brillanz, zu der sich oft auch reformerischer Elan gesellte. 2. Aus ihrem vielfältigen, der Stellung einer Romanov-Großfürstin entspringenden karitativen Wirken ragt die zusammen mit dem wegweisenden Mediziner Pirogov initiierte Gründung der Gemeinschaft der barmherzigen Schwestern der Kreuzerhöhung während des Krimkrieges als eine Art Prototyp rotkreuzlicher Fürsorge hervor. 3. Ihr ausgeprägtes Interesse an gesellschaftlichen und politischen Fragen brachte sie am stärksten in die lange umstrittene Frage der Bauernbefreiung ein, wo sie unablässig versuchte, Wege für eine Emanzipation ebnen zu helfen. 4. Die für höfische Verhältnisse kulturdefizitär aufgewachsene württembergische Prinzessin, die von ihrem Schwager Nikolaj Pavlovič samt Ehegattin 1823 zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Theater mitgenommen wurde, ging als nachhaltige Förderin der Hochkultur, insbesondere der Musik, in Russland in die Geschichte ein.

Soroka und Ruud, beide an der University of Western Ontario assoziiert, gelingt es, ein anschauliches Bild einer intelligenten, ambitionierten, engagierten, mitunter unbequemen Frau zu zeichnen, die ihre Stellung in Russlands höchsten Kreisen nicht nur als Privileg, sondern auch als Aufforderung zur Verantwortungsübernahme begriff. Trotz – oder gerade wegen – ihrer nur auf dem Papier und im Schlafgemach bestehenden Ehe ließ sich Elena Pavlovna mit aller Kraft und Überzeugung auf ihre neue russische und orthodoxe Umgebung ein – darin einer anderen, knapp 80 Jahre früher nach Russland gereisten, anfangs unterschätzten deutschen Prinzessin durchaus ähnlich – und wurde, da ist der Buchtitel richtig gewählt, zu einer bedeutenden Vertreterin des Hauses Romanov. Dass sie sich nach eigener Aussage, aber gestützt von anderen Zeugnissen, auch eine präsente deutsche Identität behielt, tat dem keinen Abbruch, im Gegenteil – es war vielmehr Ausdruck der Transnationalität der europäischen Eliten im 19. Jahrhundert. Nichts bringt diesen Umstand schöner zum Ausdruck als die Anrede von Elenas Tochter, der russischen Prinzessin Ekaterina Michajlovna, in Briefen an ihre Frau Mamá: „chère Mutter“ (S. 115).

Derlei Zusammenhänge machen bereits deutlich: Das Buch über die Großfürstin ist viel mehr als ‚nur‘ eine Biographie einer wichtigen Persönlichkeit. Es leistet zahlreiche, im Detail bis dato unbekannte, Beiträge zur (Familien-)Geschichte der Romanovs, insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; es führt die spezifische Stellung der aristokratischen Frau in Russland am höchstrangigen Beispiel vor; es bietet streckenweise eine veritable Kulturgeschichte des Hoflebens und der dynastischen Diplomatie samt Konventionen, Umgangsformen und Intrigen; es wirft neue Blicke auf die Spitzenpolitik der Autokratie – und zwar aus der Perspektive derselben – sowie auf das Kulturleben St. Petersburgs. Wie hat eine dynastische Heiratsanbahnung konkret funktioniert? Wer traf sich in den Salons der Reichen und Mächtigen? Wie sprachen die Angehörigen der kaiserlichen Familie mit- und übereinander? Wie wurde in höfischen Sphären politisch agiert? Wo lagen dabei Spielräume und Grenzen weiblichen Wirkens? Auf all diese – und viele weitere – Fragen gibt das Buch auf der Grundlage eines fantastischen, weit gefächerten Quellenmaterials aus Archiven und Publikationen Antwort.

Gewünscht hätte man sich hierbei – insbesondere für die breitere Leserschaft, die dem Buch zu gönnen ist – einige grundlegende quellenkritische Reflexionen zu den möglichen Fallstricken ausgewählter Quellen aus dem Bereich aristokratischer Selbst- und Fremdbeschreibung. Auch fehlt durchgehend, ceterum censeo, die stringente Bündelung der fesselnden Ausführungen, die so ertragreich sind, dass sie der unterstreichenden Auswertung dringend bedürfen. Dass es schwer ist, zur biographischen Studie auserkorene Persönlichkeiten als Autor nicht überzubewerten, weiß der Rezensent nur zu gut. Dennoch sei der Hinweis erlaubt, dass die insbesondere beim Thema der Bauernbefreiung herauslesbare Vorstellung, Elena Pavlovna habe von Anfang bis zum Ende des Prozesses die Fäden in der Hand behalten und die politischen Akteure wie – bisweilen widerborstige – Marionetten geführt, auch viel über den Enthusiasmus der beiden Biographen aussagt. Soroka und Ruud sind von großer Sympathie zu Elena durchdrungen, das ist legitim, kann aber auch zu erhöhtem Stilisierungsgrad verführen. Diesen zu dekonstruieren sei anspruchsvollen Lesern und Leserinnen empfohlen. Sie werden es nicht bereuen und für ihre Mühe mit tiefen Blicken in faszinierende Welten belohnt.

Matthias Stadelmann, Erlangen

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Marina Soroka / Charles A. Ruud: Becoming a Romanov. Grand Duchess Elena of Russia and her World (1807–1873). Farnham: Ashgate, 2015. 336 S., 23 Abb. ISBN: 978-1-4724-5701-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stadelmann_Soroka_Becoming_a_Romanov.html (Datum des Seitenbesuchs)

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