Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Susanne Schattenberg Die korrupte Provinz? Russische Beamte im 19. Jahrhundert. Frankfurt, New York: Campus Verlag, 2008. 294 S. = Campus Historische Studien, 45. ISBN: 978-3-593-38610-2.

Dem russischen Beamten ist seit jeher – unter Zeitgenossen wie unter Historikern – ein schlechter Ruf eigen, der in beachtlicher Kontinuität über Epochengrenzen hinweg geschritten ist und sich gar bis in die Gegenwart gehalten hat. Ganz besonders schlecht war und ist dabei die Reputation der Staatsdiener in der Provinz, wo sie – ungebildet und überfordert, demotiviert und desinteressiert – ihrer gesellschaftlichen Umgebung zur bürokratischen Qual gerieten. Vollendete Meisterschaft entwickelten die unfähigen und lustlosen Amtsstubenhocker anscheinend nur in einer einzigen Sparte – der Korrumpiertheit. Alles nur ein Missverständnis, so Susanne Schattenberg in ihrer Habilitationsschrift, von herablassenden Zeitgenossen und moralisierenden Historikern auf der Grundlage unzulässigerweise übergestülpter westlicher Maßstäbe konstruiert. Die russischen Beamten seien nicht korrupt, sondern eben anders gewesen als der „Webersche Idealbeamte“ (S. 14), den kurzsichtige Historiker doch auch unbedingt im kaiserlichen Russland entdecken wollten. Mit ihrer kulturgeschichtlichen Studie zu russischen Provinzbeamten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts will Schattenberg zeigen, „dass man zu einem anderen Verständnis russischer Geschichte kommt, wenn man sie mit Hilfe der hier angeführten Parameter betrachtet: statt des bürokratischen Beamten den patrimonialen als Analysekategorie heranzieht, von einer schenkenden Gesellschaft ausgeht, anstatt einen modernen Korruptionsbegriff anzuwenden, ‚Korruption‘ als funktionalen Tauschhandel betrachtet, anstatt der Geschichte mit der Moralkeule zu kommen“ (S. 251).

Aus diesen bündelnden Worten wird nicht nur das grundlegende Anliegen der Studie deutlich, sondern auch, wie theoriegeleitet deren Vorgehensweise ist. In den einführenden Kapiteln, die immerhin über 60 Seiten ausmachen, lotet die Autorin neben einer Einführung in Quellen und historische Gegebenheiten vor allem theoretisch-methodische Konzepte aus, mittels welcher der Untersuchungsgegenstand angegangen, erfasst und erklärt werden soll. Am Anfang steht dabei Max Weber, dessen vielzitiertes Modell des an einer abstrakt-sachlichen Verwaltungskultur orientierten „bürokratischen Beamten“ zwar nicht auf Russland passt, dessen Antithese eines „patrimonialen Beamten“ dafür umso mehr. Die Frühe-Neuzeit-Forschung gibt u.a. Anregungen zur Relevanz von Patronage- und Klientelismus-Modellen, der Blick auf das vorpetrinische Russland offenbart die Relevanz des kormlenie-Systems, also der verbreiteten Praxis, dass ein Amt seinen Träger auch ernähren musste. Weitere Konzepte liefern Ethnologie (Gabenaustausch), Soziologie (Netzwerk), Korruptionsforschung und Kommunikationstheorie.

Gleichermaßen gerüstet mit anerkannten Autoritäten wie aktuellsten Ansätzen geisteswissenschaftlicher Forschung begibt sich Schattenberg sodann in das frühe 19. Jahrhundert, in die russische Provinz, nach „Taganrog, Pensa, Orel, Simbirsk, Saratow und Sibirien“, in die „engen, stickigen und staubigen Amtsstuben, in denen sich die Akten türmten und sich Männer schwitzend über die Papiere beugten“ (S. 76). Vier Kapitel gelten dabei vier Typen von Staats- oder besser: Zarendienern: dem Kanzleibeamten, dem Gouverneur, dem Gendarmen, dem Revisor. Mit Aufmerksamkeit für das Detail, das bündelnde Erkenntnisinteresse jedoch nicht aus den Augen verlierend, wertet Schattenberg ihre Quellen aus. Es handelt sich dabei um Memoiren russischer Staatsdiener aus eben jenen vier dienstlichen Kategorien, die in Moskauer (GARF) und Petersburger (RGIA, RNB) Archiven liegen oder noch im Zarenreich veröffentlicht worden waren. Mit Hilfe dieser Erinnerungsliteraturen versucht die Autorin, der russischen Beamtenschaft auf der Grundlage ihrer Selbstaussagen näher zu kommen, als es der bislang gepflegte unsensible Blick der Historiker vermocht hat. Ihr Ziel ist es, „die Regeln und Normen des Beamtenlebens“ zu erhellen (S. 129). Dabei thematisiert sie durchaus verbreitete Vorstellungen über die russischen Staatsdiener (z.B. mangelnde Bildung, Ineffektivität, Mauschelei, Protektion, Selbstherrlichkeit etc.), zumal solche Vorstellungen ganz offensichtlich auch in der Selbstwahrnehmung eine gewisse Rolle spielten; stets jedoch werden diese bekannten Topoi vorgeführt, illustriert und – vor allem – neu interpretiert anhand ungekannter Beispiele aus der Provinz.

Will man einen gemeinsamen Nenner formulieren für Schattenbergs Befunde zu den weniger geld-, als vielmehr ehrgierigen Kanzleibeamten, zu den ebenso mächtigen wie auf ihre dienstlich-gesellschaftliche Umgebung vor Ort angewiesenen Gouverneuren, zu den in ihrer administrativen Bedeutung bisher unterschätzten Gendarmen sowie zu den gefürchteten Revisoren, so wird man ihn ohne jeden Zweifel in einer personalen, je nach Konstellation patronalen oder klientären Selbst- und Fremdwahrnehmung finden. Wer im zarischen Russland vor den Großen Reformen Dienst tat, betrachtete diesen Dienst und alle mit ihm Befassten (sich selbst eingeschlossen) nicht mit Maßstäben einer modernen, sachorientierten, auf Recht und Gesetz fundierten Verwaltungskultur, sondern aus einem quasi vormodernen Blickwinkel mit eigenen Werten und Gesetzmäßigkeiten. Bestechlichkeit und Nepotismus wandeln sich so zu normierten rituellen Handlungen in einem symbolischen Spiel zwischen Staatsdienern und Vorgesetzten bzw. Bittstellern. Auch nach den Großen Reformen, so der ausführliche Schluss, war eine starke Persistenz traditioneller Verhaltensmodi zu beobachten, weshalb jene gut gemeinten Umgestaltungen von oben auch auf erhebliche Rezeptions- bzw. Transpositionsprobleme unten stießen. Kontinuitäten des „Denkens in Personenverbänden“ lassen sich, so der Ausblick weiter, vom späten Zarenreich über die Stalin-Zeit bis heute aufzeigen.

Schattenberg hat eine frisch geschriebene, in der Tat „knackige“ (S. 10) Studie über ein alles andere als trockenes Thema vorgelegt. Mit einer gewissen Schonungslosigkeit zieht sie gegen teleologische, insbesondere die westliche Modernisierung idealisierende Geschichtsbilder zu Felde und interpretiert die russischen behördlichen Verhältnisse zur Zeit von Aleksandr I. und Nikolaj I. in anderem, in der Zugespitztheit neuem Licht. Mit forscher Intelligenz werden dabei liebgewordene Klischees vom unfähigen, unersättlichen und ehrlosen russischen Beamten, der – wie das ganze Land – dem Vergleich mit west- und mitteleuropäischen Szenarien nicht standhält, entrümpelt. Das alles ist so lesens- und bemerkenswert, dass es des etwas aufdringlich auf die Irrtümer bisheriger Forschungen deutenden Zeigefingers gar nicht bedurft hätte. Es zählt ja zu den Gemeinplätzen kulturgeschichtlichen Selbstverständnisses, dass eben jede historiographische Phase ihre spezifischen Prägungen hat und aus diesen heraus ihre eigenen Ansätze und Interessen vertritt. Der Ansatz, beispielsweise, Bestechlichkeit in einem kulturellen Zeichensystem zu verorten, liefert durchaus neue Einsichten. Aber schließt das aus, dass sich damit, wie ehedem vermutet, nicht auch maßlose Raffgier verband, deren Ausprägungsform zwar nicht gegen professionelle Konventionen verstoßen musste, wohl aber gegen Vorstellungen elementarer Sittlichkeit?

So sei trotz der plausiblen Argumentation im Buch die Frage erlaubt, inwieweit man mit der Umdeklarierung des Befundes einer defizitären Bürokratie zu einem Spezifikum tradierter russischer Habitus [Plural!] den Problematiken im russischen Staatsdienertum gerecht wird. Bei Schattenberg gerät das Beamtendasein mitunter zu einem hochsymbolisch aufgeladenen Selbstzweck, zu einem Spiel ohne Funktionalität. Dass symbolische Kategorien in der Ausgestaltung jener Lebenswelten wichtig waren, wird sehr nachhaltig dargelegt. Aber war das alles? Hatten nicht auch die patrimonialen russischen Beamten, ob hoch oder niedrig im Rang, Aufgaben zu meistern, Dienste zu erledigen und Erwartungen zu erfüllen, mit einem Wort: Leistung für den Staat und seine Bewohner zu erbringen? Aphoristische Stellenbeschreibungen, die Kaiser Nikolaj seinen Gouverneuren mit auf den Weg gab wie „jage alle in meinem Namen fort“ (S. 144), sagen uns viel über Nikolajs Autokratie und die Art, unter ihr zu regieren und zu verwalten; da hat Schattenberg schon recht. Trotzdem waren Erwartungen und Aufgaben wohl schon vor der Reformära komplexer, als es derartige Bonmots zum Ausdruck bringen. Doch solche Diskussionen zeigen nur, welch zentralen Nerv die Autorin mit ihren Thesen getroffen hat. Die fundierte und überzeugende Herausarbeitung der Relevanz personal ausgerichteter Denk- und Handlungsmuster in der behördlich-administrativen Kultur Russlands macht die schöne Studie jedenfalls zu einem wichtigen Markstein in der Auseinandersetzung mit der Politik im Russischen Kaiserreich.

Matthias Stadelmann, Erlangen-Nürnberg

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Susanne Schattenberg Die korrupte Provinz? Russische Beamte im 19. Jahrhundert. Campus Verlag Frankfurt, New York 2008. = Campus Historische Studien, 45. ISBN: 978-3-593-38610-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stadelmann_Schattenberg_Korrupte_Provinz.html (Datum des Seitenbesuchs)

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