Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 466-468

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Anatolij V. Remnëv: Samoderžavnoe pravitelstvo. Komitet ministrov v sisteme vysšego upravlenija Rossijskoj imperii (vtoraja polovina XIX – načalo XX veka). Moskva: Rosspėn, 2010. 511 S. ISBN: 978-5-8243-1392-5.

Ein Buch wie dieses wäre in der deutschsprachigen Russlandhistorie derzeit wohl unschreibbar. Es geht weder um „spaces“ noch um „turns“, weder um „maps“ noch um „mappings“, weder um Zu- noch um Einschreibungen, weder um Imaginationen noch um Repräsentationen, weder um Konstruktionen noch um Dekonstruktionen, weder um Imperium noch um Globalität. Es geht nur um – Geschichte, genauer: um Geschichte von Politik. Nicht um „Neue“ Politikgeschichte oder um Kulturgeschichte der Politik, nein, nur um Geschichte von Politik. Der Rezensent erschaudert geradezu bei dem Gedanken, dass ihm vielleicht gerade deshalb, aufgrund der theoretisch-methodischen Bescheidenheit des Autors und seiner Konzentration auf die Abläufe der russischen Politik im Kaiserreich, die Lektüre dieses Buches besonderes Vergnügen bereitet hat. In jedem Fall ist die Studie, trotz nicht zu leugnender konzeptioneller Schwächen, überaus spannend und ertragreich zu lesen.

Anatolij Remnëv, 2012 im Alter von 56 Jahren verstorbener Professor für vorrevolutionäre Geschichte an der Universität Omsk, Schüler von Boris Anan’ič und ausgewiesener Experte der Geschichte der russischen Regierung im langen 19. Jahrhundert, hat sich als erster Historiker der jüngeren Zeit einer wichtigen Institution der kaiserlichen russischen Politik angenommen, der schwer beizukommen ist und die in der westlichen Russlandhistorie eigentlich noch nie eine nennenswerte Rolle gespielt hat – des Ministerkomitees. Da es weder Kabinett noch gesamtheitliche und verantwortliche Regierung war, geriet es in der Betrachtung der Historiker schnell und dauerhaft in die Schublade des rein Formalen, Irrelevanten. Für Remnëv jedoch ist es der Zugang zur Bestimmung der „selbstherrscherlichen Regierung“ in Russland, die, wie man weiß, nicht auf die Figur des Herrschers reduziert werden kann, sondern ein komplexes, oft schwer durchschaubares System mit einer Vielzahl eigener (Un-)Gesetzlichkeiten darstellte. So mag zwar der Befund, dass es im Russischen Reich aufgrund unklarer und beweglicher Kompetenzverteilungen zwischen den höchsten Staatsorganen zu keiner verlässlichen und eindeutigen Funktionsweise der kaiserlichen Regierung gekommen ist, nicht überraschen; doch gebührt Remnëv das Verdienst, diesen Befund detailliert, gewissenhaft, gut belegt und anschaulich herausgearbeitet zu haben.

Nicht nur entreißt der Autor eine Institution dem historischen Vergessen, die für Russlands Kaiser und Reich über lange Jahrzehnte hinweg in der Administration sehr präsent war, sondern das Ministerkomitee dient ihm zur Verfolgung der Frage, wie der Monarch und seine Regierung im politischen Sinne ‚funktioniert‘ haben. Auch wenn sich der Verfasser zitat-, fußnoten- und geistesblitzgespickte theoretische Einführungen erspart, ist sein Anliegen damit nicht nur berechtigt, sondern im historiographischen Sinne durchaus modern und zeitgemäß. Eine „Geschichte der Technologie der Macht im kaiserlichen Russland“ – das steht hoch oben auf der Agenda, mit der wir dem Petersburger Reich gegenübertreten. Remnëvs Herangehensweise ist dabei – unbewusst – eine Art „dichter Beschreibung“ (Geertz) der alltäglichen politischen Praxis auf höchster Ebene, der „Wechselwirkungen auf den persönlichen und kollektiven sowie institutionellen Ebenen der regierenden Elite“ (S. 8). Damit verschiebt sich der Fokus von dem für das Kaiserreich klassischen Konfliktschema zwischen Regierung und Gesellschaft hin zu den – wie dem Rezensenten scheint – völlig unterschätzten Konflikten innerhalb der Sphären der Macht. Hier, in den Kämpfen der Mächtigen miteinander zu nicht festgelegten Spielregeln, liegen für Remnëv letztlich die tieferen Gründe für die Unfähigkeit der selbstherrscherlichen Macht, „angemessene Maßnahmen und Antworten auf die Herausforderungen der Zeit zu finden und das Regierungshandeln effektiv zu organisieren“ (S. 9).

Seine Befunde erarbeitet der Verfasser in fünf großen Kapiteln: Das erste stellt das Ministerkomitee des „nachreformerischen Russland“ (poreformennaja Rossija), also nach den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts vor, beschreibt ausführlich seine Zusammensetzungen, die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Kanzlei des Komitees mit ihrer spezifischen „Kunst des Redigierens“ und unternimmt den ebenso verdienstvollen wie aufwändigen Versuch, die im Lauf der Jahre steigenden Kompetenzen des Komitees erstmals so klar und umfassend als möglich darzulegen – von den „laufenden Angelegenheiten“, dem sogenannten „Verwaltungskram“ (administrativnyj chlam, S. Ju. Vitte) über Themen, die einen einzelnen Minister überforderten, bis hin zur expandierenden Menge an spezifischen Komiteeangelegenheiten, die von der inneren Sicherheit über wirtschaftspolitische Fragen bis hin zu den Rechenschaftsberichten der Gouverneure reichten. Das zweite Kapitel geht der Positionierung des Ministerkomitees gegenüber den anderen beiden höchsten Gremien des Russischen Reiches nach, dem Staatsrat und dem Senat, die beide am Ende des Jahrhunderts in unterschiedlichen Ausmaßen ins Hintertreffen gerieten; das dritte Kapitel verfolgt dasselbe Anliegen gegenüber den berühmt-berüchtigten Sonder-Komitees verschiedener Art. Kapitel vier und fünf schließlich wenden sich den Fragen, Problemen, Überlegungen, Vorhaben, Erwartungen und Ängsten zu, die man in der Sphäre der russischen Spitzenpolitik mit dem Konzept einer „einheitlichen“ bzw. „vereinigten“ Regierung verknüpfte, was das Ministerkomitee ja nie war, aber nach Ansicht reformerischer Kräfte hätte sein können und sollen.

Die Quellenbasis des Buches ist durchaus reich; schade jedoch, dass es auf ein Quellen- und Literaturverzeichnis verzichtet – und man als Leser neben einer knappen Einführung des Verfassers nur die Fußnoten konsultieren kann, die übrigens, was die Sekundärliteratur angeht, recht dünn gehalten sind. Immerhin geht aus der Befußnotung der Befund hervor, dass – trotz der Benutzung von Materialien etwa aus dem Russischen Staatsarchiv – der Autor seinem Ziel einer historischen Technologie der russischen Regierungspraxis über die Gattung der Erinnerungsquellen von Staatsmännern und Beamten am nächsten kommt – sie können die hinter den trockenen Buchstaben der erlassenen Gesetze verborgenen, oft kampfumtosten Vorgeschichten zum Leben erwecken und damit, auch wenn es hier nicht laut tönend vorgetragen wird, den Fokus von einer Geschichte politischer Entscheidungen zu einer kulturell fundierten Geschichte politischer Aushandlungen verschieben.

Es ist unmöglich, die unterschiedlichen, vielseitigen Beobachtungen und Erkenntnisse Remnëvs hier auch nur annähernd zusammenzufassen – denn mit seiner Analyse des Ministerkomitees legt er gleichzeitig, quasi ‚im Vorbeigehen‘ eine detailgestützte, auswählende Einführung in die politische Entwicklung Russlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor, die Zwischenräume zwischen einigen bekannten Säulen mit vielen wenig bekannten konkreten Konstellationen füllt. Dass so als Nebenprodukt eine Vielzahl aufschlussreicher Details der russischen Politik zwischen den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts und 1905 zu Tage gefördert wird, ist freilich Stärke und Schwäche zugleich. Stärke, da die Beispiele allesamt sprechend und aussagekräftig sind, Schwäche, da sie immer wieder die konzeptionellen roten Fäden verwickeln, zu Abschweifungen verführen und den Pfad der Stringenz aufzugeben zwingen. Die roten Fäden zu erkennen, macht der Autor seinen Lesern, vor allem den nicht näher mit der Politik des russischen Kaiserreichs befassten, ohnehin schwer durch den Verzicht auf kleinräumige, übersichtliche Gliederung seines Werkes. Schier endlose Großkapitel und -abschnitte ohne zusammenfassende Bündelung machen, in Verbindung mit einer durchweg beispielgestützten Erzähldichte, jeden Versuch, in ein Kapitel nur ‚hineinzulesen‘, von vornherein zunichte. Wer in den Genuss des Ertrages des Buches kommen will, muss es konzentriert und ganz lesen, in einem Stück. Dies empfiehlt sich noch aus einem anderen Grund: Als versierter Kenner der Regierungspolitik des 19. Jahrhunderts geht Remnëv mitunter recht virtuos mit seinem Untersuchungszeitraum um: Während er an einigen Stellen chronologisch sehr differenziert argumentiert, geht er über die historische Dynamik der Jahrzehnte an anderen Stellen hinweg, wenn es der Argumentation dienlich ist. Dabei wusste Remnëv selbst am Besten, dass auch im scheinbar monolithischen „Zarenreich“ zwischen Jahrzehnten auch schon mal Welten liegen konnten.

Doch diese kritischen Bemerkungen sollen und können in keiner Weise die großen Leistungen dieses Werkes schmälern, das Anatolij Remnëv der Fachwelt als Vermächtnis hinterlassen hat. Es zeichnet uns, ausgehend vom unbemerkt immer wichtiger werdenden Ministerkomitee, ein detailgetreues, anschauliches, bestechend scharfes Bild der russischen Spitzenpolitik, ihrer Charakteristiken und Probleme zwischen Reformzeitalter und Revolution von 1905, die bekanntermaßen die Karten im russischen politischen Geschäft neu verteilte (und dabei dem Ministerkomitee das Ende brachte): Unklare Kompetenzen, schwankende Funktionsverteilung, institutionelle und persönliche Konkurrenzen, informelle Einflussstrukturen, kaiserliche Endentscheidungsrechte, eigene monarchische Vorstellungen, wie Politik zu geschehen habe, schließlich: der persönliche Faktor, dessen enormes Macht- und Gestaltungspotential in stets wechselnden Konstellationen eine der großen Konstanten in der russischen Politik des langen 19. Jahrhunderts blieb.

Matthias Stadelmann, Jena

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Anatolij V. Remnëv: Samoderžavnoe pravitel’stvo. Komitet ministrov v sisteme vysšego upravlenija Rossijskoj imperii (vtoraja polovina XIX – načalo XX veka). Moskva: Rosspėn, 2010. 511 S. ISBN: 978-5-8243-1392-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stadelmann_Remnev_Samoderzavnoe_pravitelstvo.html (Datum des Seitenbesuchs)

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