Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 265-267

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Andreas Kappeler: Russland und die Ukraine. Verflochtene Biographien und Geschichten. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012. 395 S., Abb. ISBN: 978-3-205-78775-4.

Andreas Kappelers besondere Sensibilität für die ethnische Diversität des russländischen Imperiums ist der historiographischen Fachwelt ebenso wie einem breiteren Lesepublikum seit Langem bekannt, seine herausragende Expertise zur Ukraine ebenfalls. Angesichts dieser Disposition des bisherigen wissenschaftlichen Œuvres war ein Werk aus Kappelers Feder, das sich mit Russland und der Ukraine bzw. mit den Wechselbeziehungen zwischen diesen beiden Kulturräumen innerhalb des Russischen Reiches befasst, unschwer zu erwarten. Russland und die Ukraine behandelt „verflochtene Biographien und Geschichten“ des „langen“ 19. Jahrhunderts am Beispiel des bemerkenswerten, in mehrfachen Dimensionen ukrainisch-russischen Wissenschaftlerehepaares Jefymenko. (Der Rezensent folgt in der Schreibweise von Namen und Orten konsequent dem besprochenen Buch, in der russischen – im untersuchten Zeitraum offiziell gültigen Variante – hieße der Name „Efimenko“.) Kappeler nimmt mit dieser mikrologischen Konzeption nicht die ‚klassischen‘, soziopolitisch ausgerichteten Themen ukrainisch-russischer Verhältnisse zum Ausgangspunkt, nicht die ukrainische Nationalbewegung und die russisch-zentralstaatliche Unterdrückung derselben, sondern nähert sich den schwierigen und spannenden Wechselwirkungen im Großen aus der originellen Perspektive persönlicher Lebensgeschichte im Kleinen. Dabei wirkt der Ansatz allenfalls im ersten Moment kleinräumig – öffnet doch die personenorientierte Studie zum Ehepaar Jefymenko den Blick auf zentrale Probleme russisch-ukrainischer Geschichte, insbesondere zwischen den „Großen Reformen“ und der Revolution von 1917.

Kappelers methodisches Anliegen besteht in einer transnational operierenden „Verflechtungsgeschichte“, die „ihre Aufmerksamkeit auf Wechselwirkungen, Kommunikationen und Überschneidungen, Kreuzungen und Verschränkungen“ richtet und dabei „einerseits Staaten, Nationen, Gesellschaften und Kulturen, andererseits Sichtweisen, Denktraditionen, Historiographien, Erinnerungen und Geschichtskulturen und nicht zuletzt auch historische Akteure, einzelne Menschen“ im Blick hat (S. 16). Die Themen des Buches – die Lebensgeschichten eines bi-ethnischen Ehepaars zwischen Russlands hohem Norden und der Ukraine, das ethnologische und historiographische Schaffen des Paares und dessen wissenschaftliche wie kulturell-politische Rahmenbedingungen – scheinen prädestiniert für diesen Ansatz einer „verschränkten Geschichte“.

Und tatsächlich kann Kappeler „Verflechtungen“ auf mehreren Ebenen für unser Verständnis von russisch-ukrainischer Geschichte fruchtbar machen: Die erste, die „Mikroebene“ bildet das Leben von Aleksandra (1848–1918) und Petro (1835–1908) Jefymenko, die sich beide „eindeutigen ethnischen Zuordnungen entziehen“ (S. 30), obgleich die jeweilige biographische Ausgangslage klar definierbar ist: Aleksandra Stavrovskaja, Tochter eines niederen Beamten, stammte aus dem Gouvernement Archangel’sk; Petro Jefymenko, ein Bauernsohn, dagegen aus dem Südosten der (heutigen) Ukraine, unweit des Azovschen Meeres. Seine Verbannung in Russlands Norden wegen Beteiligung an „studentischem Aufruhr“ im Jahr 1860 ermöglichte das Sich-Kennenlernen des ungleichen Paares. Drei Jahre nach der Heirat 1870 konnten die Jefymenkos vom hohen Norden nach Voronež am Don umsiedeln, 1876 durften sie sich ihren Wohnsitz frei wählen und zogen in die Ukraine, zuerst nach Černigov, dann nach Char’kov. 1907 ging es wieder nach Russland, in die Hauptstadt St. Petersburg, wo Aleksandra zur Hochschullehrerin bei den „Höheren Frauenkursen“ berufen worden war und Petro ein Jahr später starb. In den Wirren der Revolution übersiedelte Aleksandra schließlich – für den Historiker ein geradezu symbolischer Umstand – ins Grenzgebiet zwischen Russland und der Ukraine; 1918 fand sie dort unter ungeklärten Umständen einen gewaltsamen Tod.

Die zweite Verflechtungsebene zwischen „russisch“ und „ukrainisch“ stellt für Kappeler das Russländische Imperium des 19. Jahrhunderts dar, der territoriale, politische und kulturelle Rahmen für Leben und Wirken des Ehepaars. Dabei interessieren den Autor, den Haltungen und biographischen Prägungen der Jefymenkos entsprechend, vor allem nationale und politische, d.h. hier vor allem populistische Entwicklungsprozesse unter den kritisch positionierten Intellektuellen, unter denen Russen wie Ukrainer zu finden waren. Das wissenschaftliche Werk Petros und Aleksandras bildet die dritte Verflechtungsebene. Nicht nur, dass der Ukrainer und die Russin gemeinsam ihre ethnographisch-historischen Forschungen betrieben – die Gegenstände ihrer Studien lassen ebenfalls Verschränkungen hervortreten, da es dabei einerseits, in einer ersten Phase, um die Bauern des russischen Nordens ging, anderseits, nachdem man sich in „Kleinrussland“ niedergelassen hatte, vor allem um die Geschichte der ukrainischen Länder. Die vierte Fragestellungsebene definiert Kappeler in der Wissenschaftsgeschichte jener Zeit, in die sich das Oeuvre des Ehepaars einordnet. Das nationale Erwachen förderte auch in russischen wie in ukrainischen Kulturkreisen die Entstehung national zugespitzter Geschichtsbilder; die Frage, wie sich die thematisch verflochtenen Studien des  bi-ethnischen Paares in den auseinanderdriftenden Wissenschaftsdiskursen, seien sie national-ukrainisch, -russisch oder übergreifend imperial ausgerichtet, positionierten, steht hier im Mittelpunkt. Der fünfte Schritt besteht schließlich in der Betrachtung der „Makroebene der russisch-ukrainischen histoire croisée vom Mittelalter bis ins späte 19. Jahrhundert“ (S. 32), die Kappeler über die Analyse von Aleksandra Jefymenkos Opus magnum, der „Geschichte des ukrainischen Volkes“ (1906) betritt.

Allein die knappe Erläuterung von Kappelers Untersuchungsebenen macht deutlich, wie vielschichtig diese Studie das russisch-ukrainische Mit- und Gegeneinander im „langen“ 19. Jahrhundert aufgreift, ausgehend von den beiden Protagonisten sowie ihren Lebens- und Schaffenskontexten, aber stets um die Verallgemeinerung auf breiter Ebene bemüht. Es gehört große fachliche Souveränität und darstellerische Erfahrung dazu, um so sicher und selbstverständlich, wie der Autor es tut, die Brücken zu schlagen vom Besonderen zum Allgemeinen und wieder zurück. Kappeler erzählt nicht nur neue, unbekannte und schon für sich genommen spannende Geschichten von russisch-ukrainischen Intellektuellen mit untypischen, durchwachsenen Karrieremustern, ihren privaten Lebensumständen, professionellen Betätigungen und politischen Haltungen, sondern er gestaltet aus diesen Beispielen heraus eine Geschichte der ukrainischen Problemfelder im russländischen Staatsverband schlechthin, die darüber hinaus von gender- oder wissenschaftsgeschichtlichen Erkenntnisperspektiven ergänzt werden. Dass der Verfasser sich den terminologischen und semantischen Schwierigkeiten, die das Schreiben über die – im 19. Jahrhundert meist nicht so bezeichnete – Ukraine mit sich bringt, sicher und souverän stellt, bedarf kaum der Betonung.

Die verflochtenen Biographien werden stets eingeordnet in die übergreifenden Zusammenhänge ihrer Zeit, wobei zahlreiche kurz gefasste Erweiterungsexkurse zu angesprochenen Personen oder Gegebenheiten auch für Nichtexperten verständliche historische Bilder entstehen lassen. Man kann das Buch jenseits seines fachlichen Anspruches und seiner pragmatischen methodischen Innovativität auch jedem empfehlen, der an einer substantiellen, immer anschaulich-konkreten Einführung in die kleinrussisch-ukrainischen Problemkomplexe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts interessiert ist. Vielleicht ist dieses offensichtliche Ansinnen, neben Historikern und der Fachwelt auch breitere interessierte Kreise anzusprechen, die großen Strukturen immer wieder in Erinnerung zu rufen und nichts unerklärt zu lassen, für manche Wiederholung und Redundanz verantwortlich: Etliche Argumentationen, Voraussetzungen und Schlussfolgerungen liest man nicht nur einmal. Auch lassen Kappelers außerordentliche Sensibilität für die Fallstricke autobiographischer oder wertender Quellen sowie seine gewissenhafte Bemühung um permanente Quellenkritik den Duktus bisweilen etwas mühsam werden. Doch schmälern weder diese Umstände noch die unverkennbare, von Kappeler auch ehrlich eingestandene Sympathie mit Idealisierungstendenz insbesondere für die Protagonistin in keiner Weise die Verdienste dieser ambitionierten Studie, die stringente biographische Partien ebenso aufweist wie klare strukturelle Analysen.

Es dürfte bereits klar geworden sein, dass das Buch so multiperspektivisch argumentiert, dass eine Zusammenfassung seiner vielfältigen Erträge schwer möglich erscheint. Es fehlt hier der Raum, um auf die gerade in ihren Ambivalenzen spannenden Details von Biographie und gesellschaftlichem Umfeld einzugehen, auf die durchaus bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen des Paares, auf die Thesen Aleksandras zur ukrainischen Geschichte, auf die unterschiedlichen Akkulturierungs-, Assimilierungs- und Abgrenzungsstrategien von „Kleinrussen“ im Imperium, auf die en passant sichtbar werdenden Erkenntnisse zu „ostukrainischen“ Lebenswelten oder die Einblicke in gendergeschichliche Fragen der akademischen Sphäre des späten Zarenreiches. Allein aber die Überzeugungskraft, mit der Kappeler die „mehrfachen, wechselnden und situationsgebundenen Identifikationen“ (S. 329) unter Russlands Intelligenz, die „Transnationalität und Hybridität“ (S. 331) der Protagonisten, die Verschränkung von „ukrainisch/russisch/all-russischen ethno-nationalen Identifikation[en]“ und einem „Regionalbewusstsein“ (S. 333), aber auch die Herausforderungen „einer multiplen, hybriden, situativen Identifikation“ (S. 337) durch die Eigendynamiken konstruierter nationaler Einheitlichkeit herausstellt, machen das Werk zu einem echten Meilenstein bei der Verfolgung transnationaler Ansätze zur Geschichte des Russländischen Imperiums und darüber hinaus.

Matthias Stadelmann, Erlangen-Nürnberg

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Andreas Kappeler: Russland und die Ukraine. Verflochtene Biographien und Geschichten. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012. 395 S., Abb. ISBN: 978-3-205-78775-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stadelmann_Kappeler_Russland_und_die_Ukraine.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Matthias Stadelmann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.