Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.) Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2007. 392 S.

„Kultur“ und „Geschichte“ – die Liaison von Vergangenem und seiner geistig-mentalen Bedingtheit hat sich seit den achtziger und neunziger Jahren so sehr symbiotisch intensiviert, dass längst der Eindruck entstanden ist, Geschichte sei ohne „Kultur“ (zu welchem Kulturbegriff man sich auch immer bekennen mag) nicht mehr zu erklären, Geschichtswissenschaft ohne kulturologische Anleitung nicht mehr zu betreiben. Die „Kulturgeschichte“ hat – zumindest in der historischen Forschung – den Weg von innovativer Exklusivität über modische Progressivität hin zu einer geradezu konkurrenzlosen Ubiquität im Sturmschritt zurückgelegt. Gibt es noch ambitionierte Historiker, deren Beschäftigung keine Bezüge zum weiten Feld der „Kultur“ aufweist?

Der von Bianka Pietrow-Ennker herausgegebene, in Zusammenhang mit dem Konstanzer Sonderforschungsbereich „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“ entstandene Sammelband befindet sich also ganz unmittelbar am „Puls der Zeit“, er thematisiert für die deutschsprachige Russ­landhistorie im Titel klar und eindeutig das herrschende Paradigma. Freilich macht schon der Blick in das Inhaltsverzeichnis die offensichtliche thematische wie methodische Heterogenität dieses Paradigmas deutlich. Zu verwundern braucht dies, genau genommen, nicht, denn schließlich gehörte das Bekenntnis zur Vielseitigkeit, die Akzeptanz des Disparaten, die Beachtung des Entlegenen seit jeher zum kulturgeschichtlichen Credo, mit welchem man sich gegenüber ausgetretenen Pfaden und teleologischen Blindheiten von Politik- und Sozialgeschichte positionieren wollte. Zum anderen kann und will der Band kein Lehrbuch russländischer Kulturgeschichte sein, sondern einen „aktuellen Einblick in die Russlandforschung des deutschsprachigen Raumes geben“ und dabei „neue Fra­gestellungen und Zugänge“ sowie die „Anschlussfähigkeit der [...] Osteuropäische(n) Geschichte [...] an andere Disziplinen“ vorführen (S. 13); schließlich gehört der Blick über die eigenen Fachgrenzen zwingend zum kulturhistorischen Selbstverständnis.

Die Herausgeberin ist sich bewusst, wie schnell bei Sammelbänden der Befund der „Dis­pa­rität“ gestellt wird. Sie versucht, derlei nicht ganz unbegründeten Einschätzungen den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie die Beschrei­bung eines „Forschungshorizontes“ (S. 32) und damit die Erstellung „konzeptionelle[r] und methodische[r] Angebot[e]“ (S. 21) zum erklärten Ziel der Publikation macht. Darüber hinaus gelingt es Pietrow-Ennker in einer meisterhaft geschriebenen Einleitung die weit vonein­an­der entfernt liegenden Beiträge und Ansätze mittels der Einordnung in fünf größere, systema­tisch begründete Themenkomplexe (Raum, Me­dialität, Identität, Lebenswelt, postsowjetische Sinnstiftung) in gedankliche Beziehung zueinander zusetzen, wodurch innerhalb der jewei­ligen Komplexe mögliche Anknüpfungspunk­te aufscheinen. Solche Strukturierungsarbeit ist nicht nur verdienst-, sondern auch sinnvoll, zumindest für jene Historiker, die auch in Zei­ten kulturgeschichtlicher Relativierung noch nach Ergebnissen und Erkenntnissen, vor allem aber nach Zusammenhängen suchen. Zu Unrecht amüsiert sich Dmitri Zakharine in seiner Schlussbetrachtung über den editorischen Usus, die „Künstlichkeit und Konstruiertheit des gesam­melten Ideengutes“ in Sammelbänden „zu ver­schleiern“ (S. 369), schließlich versucht sich auch er an der Bündelung des Disparaten, indem er sich anhand der Beiträge auf die Fährte der „interaktionistischen Wende“ in den Kulturwissenschaften begibt, die es am Paradigmenwechsel von einem normativen über einen medientheoretischen hin zu einem symbolorientierten Kulturbegriff festzumachen gelte. Doch bei aller kulturtheoretischen Virtuosität des Kommentators – das im Titel seines Beitrags versprochene „neue Kulturkonzept der historischen Osteuropaforschung“ geht aus seinen Reflexionen nicht hervor.

So bleibt, um eine Vorstellung von heutiger Kul­turgeschichtsforschung im deutschsprachigen Raum zu bekommen, doch nur die Vorführung der Praxis – und genau hierin liegt die Ziel­setzung des Bandes. Dass nicht alle Beiträge an Stärken gleich sind, dass mancher Aufsatz auch längst von einer größeren Monographie zum Thema „überholt“ wurde, entspricht dem We­sen von Sammelwerken, tut aber dem Anliegen keinen Abbruch. In der Kategorie „Raum-Denken“ geht Guido Hausmann der Symbolisierung der Natur am Beispiel der Deutung der Volga im 17. Jahrhundert nach. Oliver Reisner fragt nach den Gründen für die besondere symbolische Bedeutung des Kaukasus im imperialen Russland, hat aber die Antwort, zumindest in seinem Beitrag, noch nicht gefunden. Tom Jür­gens schließlich skizziert am sibirischen Bei­spiel Entwicklungen im Regionalmuseumswesen, die in der propagandistischen Ausschlachtung und Nivellierung der Museen im sowjetpatriotischen Geist enden.

„Neue mediale Strategien“ bilden die Klammer des zweiten Themenbereichs. Dabei versucht Jurij Murašov in einem anregenden, jedoch recht ergebnisoffenen Beitrag, Entwicklungen des 15. und 16. Jahrhunderts medienhistorisch auf den Fortschritt der Typographie zurückzuführen. Bei der Häresieproblematik des späten 15. Jahrhunderts gelingt ihm dies deutlich besser als bei Ivan IV.; die Darstellung der opričnina als Reaktion auf mentale Veränderungen durch den Buchdruck lässt zwar aufhorchen, kann aber nur eine ergänzende Argumentationslinie sein. Konventionellere Bahnen schlägt Ric­car­do Nicolosi ein, indem er die petrinische Kunstkamera als Symbol für das neue Russland beschreibt und strukturelle Parallelen zwischen dem neuen Museum und der neuen Stadt des „De­miurgen“ Peter herausarbeitet. Um einen neu­artigen Kommunikationsstil zwischen russischem Herrscher und seinen Untertanen geht es auch Ingrid Schierle. In ihrer Analyse markiert das seit Ende des 18. Jahrhunderts immer zentraler werdende Wortfeld „Vater­land“ (ote­čest­vo) den Beginn eines prä-, aber auch transnationalen Patriotismus, was in seiner gedanklichen Weiterführung auch auf integrative Aspekte imperialer Konstellationen verweist.

Mit dem Übergang in das 19. Jahrhundert wird auch der Schritt zum Themenkomplex „Iden­titätskonstruktionen in der beginnenden Moderne“ vollzogen. Lutz Häfner führt in die russischen Hintergründe des Duells ein und versucht eine erste soziokulturgeschichtliche Ein­ordnung unter den Aspekten soziales Prestige, Ehre, Ritualisierung, Medialisierung. Die Interaktionen der Diskursfelder „Gender“ und „Nation“ zeigen Elisabeth Cheauré, An­tonia Napp und Elisabeth Vogel in ihrem gemeinschaftlichen Aufsatz anhand zweier Beispiele aus bildender Kunst und Literatur auf. Ausgehend von der unterstützenswerten These der Prägung von Sozial- und Mentalitätsgeschichte auch durch Er­scheinungsformen der Hochkultur werden die Zusammenhänge von Porträtmalerei und konstruierten Geschlechterrollen bzw. von Gender- und nationalen Identitätsdiskursen untersucht. Weiterhin gehören zu diesem Abschnitt Susi K. Franks Darstellung zur „Anthropologie als Instrument imperialer Identitätsfindung“, bei der es um sibirische Rassentheorien des 19. Jahrhun­derts geht, sowie Rainer Lindners Aufsatz über Ekaterinoslav (später Dnepropetrovsk / Dnipropetrovsk) als Symbol des Wandels vom autokratischen zum industriellen Russland im Laufe des 19. Jahr­hun­derts. Schlüssig weist Lindner die Prioritätenverschiebung von (geplanter) zarischer Repräsentationsmetropole hin zu (realer) Industriestadt nach; freilich vermag hier – wie in etlichen an­deren Beiträgen – der empirische Befund deut­lich eindrucksvoller zu überzeugen als die theoretische Explikation in Form geballter kulturgeschichtlicher Codewörter. Aber diese terminologische Selbstvergewisserung lässt sich längst nicht nur in diesem Band beobachten, sie scheint ja Teil kulturhistorischer Identität geworden zu sein.

Der vierte Abschnitt führt unter dem Stichwort der „Lebenswelt“ in die sowjetische Zeit. Ju­lia Obertreis, Carmen Scheide und Jörg Ba­be­row­ski äußern sich zu den Themenkreisen ihrer bereits erschienenen großen Studien über Wohnen im sozialistischen Alltag, Arbeiterinnen in der NĖP und Stalinismus im Kaukasus; Eva Maeder beschreibt den Konflikt von religiösen Normen und Ritualen mit einer feindlichen politischen Umgebung am Beispiel der Alt­gläu­bigen im Baikalgebiet. Teil fünf schließlich wartet mit drei Studien zur neuen Sinnsuche im postsowjetischen Russland auf: Birgit Men­zel thematisiert Trivialliteratur und Science fiction, Jana Bürgers fragt nach der Indienst­nah­me des Kosakenmythos für die heutige ukrainische Nationalität am Beispiel des Nationalparks Chortycja, während Rosalinde Sartorti versucht, das Erfolgsgeheimnis Vladimir Putins (auch) über dessen mediale Inszenierung zu ergründen.

In der kurz aufgezählten Diversität der Beiträge liegen Schwäche und Stärke des Sammelban­des. Trotz einer klugen Gruppierung kann das Buch seinen Charakter als publizierter Work­shop nicht verleugnen – und will es auch gar nicht. Das bedeutet freilich, dass Leser außer­halb der engeren osteuropäisch-historischen Fachkreise wohl nur bei Vorhandensein eines aus­nehmenden Interesses für Russland und/oder Kulturgeschichte zu faszinieren sein werden. Andererseits vermag das Buch auch „Einsteigern“ durchaus umfassende und anschauliche Ant­worten zu geben: etwa auf die Fragen meiner Erlanger Studenten, wie man sich denn „Kul­turgeschichte“ in der Praxis eigentlich vorzustellen habe. Dass darüber hinaus die Bestands­aufnahme moderner Forschung Anregung und Verdienst zugleich ist, steht außer Frage.

Matthias Stadelmann, Erlangen-Nürnberg

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.) Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2007. 392 S. ISBN: 978-3-525-36293-8, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stadelmann_Ennker_Kultur.html (Datum des Seitenbesuchs)