Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 341-343

Verfasst von: Stephan Stach

 

Christian Domnitz: Hinwendung nach Europa. Neuorientierung und Öffentlichkeitswandel im Staatssozialismus 1975–1989. Bochum: Winkler, 2015. 454 S. = Her­ausforderungen, 23. ISBN: 978-3-89911-225-2.

Die Relevanz und Aktualität der hier angezeigten Studie Hinwendung nach Europa beweisen sowohl die pro-europäische Revolution von 2013/14 in der Ukraine als auch die europaskeptischen Regierungen in Ungarn oder Polen, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. In vier Kapiteln geht Christian Domnitz der Frage nach, wie Europa in den staatssozialistisch geprägten Gesellschaften der ČSSR, der DDR und der Volksrepublik Polen imaginiert und erzählt wurde, wobei er sowohl die offizielle als auch in der Untergrundpublizistik in den Blick nimmt. Auf einer weiteren Ebene zeigt er am Beispiel der um „Europa“ kreisenden Debatten, wie in den drei betrachteten Staaten ein freilich unterschiedlich stark ausgeprägter Wandel der Öffentlichkeitsstruktur in Gang kommt. Dabei betrachtet er die repräsentative Öffentlichkeit der Parteieliten ebenso wie die Gegenöffentlichkeit der Dissidenten. Eng an die jeweiligen publizistischen Akteure angelehnt fragt er nach dem Entstehen der dissidentischen Gegenöffentlichkeit, nach Zensur und Presselenkung, aber auch nach individuellen und redaktionellen Umgehungsstrategien, die die „Grenzen des Sagbaren“ in der offiziellen Publizistik veränderten.

Den Ausgangspunkt für den Öffentlichkeitswandel wie auch für die Europadebatten erblickt Domnitz im KSZE-Prozess und der Schlussakte von Helsinki. Diese gab den Dissidenten und Oppositionellen mit den im Korb III festgeschriebenen Menschenrechten nicht nur die Möglichkeit, den Kontrast zwischen pro forma zugesicherten und de facto gewährten Rechten vor nationalem wie europäischem Publikum als Vertragsverletzung anzuprangern. Über die Formel von der „Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, auf die sich der KSZE-Prozess gründete, drang Europa als Berufungsinstanz bis tief in die offizielle Publizistik vor.

Im ersten Kapitel stellt der Autor drei Zeitschriften der regierungsnahen Publizistik und ihre jeweilige Rolle in der nationalen Öffentlichkeit vor, die wegen ihres internationalen Anspruchs und der sich daraus ergebenden großen Präsenz von Europanarrativen das Herzstück des ohnehin umfangreichen Quellenkorpus bilden. Es handelt sich um die tschechische Tvorba, die polnische Polityka und den ostdeutschen Horizont. Sie klopft Domnitz auf das Verhältnis zu Regierung und Presselenkung, Kontakte der Redakteure zu den Geheimdiensten, Beziehungen zur Wissenschaft und auch zur Untergrundpublizistik ab, wobei er zum Teil starke Unterschiede zwischen den einzelnen Zeitschriften herausstellt. Ebenso sucht er nach dem nationalen Selbstbild und nach grenzüberschreitenden Kontakten der Redaktionen und Redakteure. Während Domnitz eine grundsätzlich große Nähe zum System feststellt, gelingt es ihm zugleich auch, teilweise eigensinnige Strategien von Publizisten aufzuzeigen, die Grenzen des Sagbaren zu weiten.

Im zweiten Kapitel wendet sich Domnitz den kommunistisch-dogmatischen Europanarrativen zu: Die Abgrenzung nach außen, insbesondere aber nach Westen, ökonomische Ost-West-Kooperationen im Rahmen der KSZE, Friedenspropaganda sowie natürlich die „Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“. Der Autor arbeitet überzeugend heraus, dass sich die staatssozialistische Herrschaft trotz internationalistischer Rhetorik über die Betonung des Nationalen legitimierten, weshalb sie sich nicht nur vom westlichen Europa, sondern auch von den Nachbarstaaten abgrenzte. Die gleichzeitige Festlegung auf die Sowjetunion als wichtigsten Partner zementierte deren Dominanz. Die Fixierung auf nationale Souveränität habe sich etwa im Schlagwort von der „friedlichen Koexistenz“ niedergeschlagen, die anders als die westeuropäischen Einigungsbemühungen keine transnationalen Bindungen beinhaltete. Durch die offiziell positiv bewertete Zusammenarbeit mit dem Westen im KSZE-Prozess habe dieser jedoch immer weniger als Feindbild herhalten können. Die offizielle Europa-Publizistik habe also thematische Schneisen geschlagen, derer sich die Untergrund-Publizistik schließlich mit Widerspruch oder umdeutender Aneignung bedienen konnte.

Deren Narrativen ist das dritte und umfangreichste Kapitel gewidmet. Sie kreisten zunächst um Menschenrechte im „Europa von Helsinki“, nahmen sich aber auch der Friedensthematik an und imaginierten Europa als Brücke zur Annäherung der Machtblöcke. Mit der transnationalen Vernetzung von ostmitteleuropäischen Dissidenten untereinander und mit der westeuropäischen Friedensbewegung wurden, wie der Autor ausführt, auch offizielle Narrative umgedeutet. Beispielhaft sei die „Unteilbarkeit des Friedens“ genannt, die neben zwischenstaatlichem Gewaltverzicht auch die Gewährung bürgerlicher Rechte postulierte. Darüber hinaus beschreibt Domnitz – teils als Transfer aus dem Exil – weitere Europanarrative, die sich gänzlich vom KSZE-Prozess lösten. Debatten etwa über europäische Kultur, die Zugehörigkeit Zentraleuropas zum Westen oder solche über die Besonderheiten der zentraleuropäischen Kultur, bei denen auch die Bedeutung der eigenen Nation hervortrat. In der Berufungsinstanz „Europa“ verschmolzen, so Domnitz, westliche Kultur, Demokratie und Wohlstand. Damit habe unabhängiges Nachdenken über Europa die Legitimität des Staatssozialismus infrage gestellt.

Das vierte und letzte Kapitel thematisiert den Deutungskampf um Europa in der offiziellen Publizistik. Dabei kann Domnitz aufzeigen, dass Narrative aus dem Untergrund Eingang in die offizielle Publizistik fanden, es somit der Gegenöffentlichkeit gelang, Themen zu setzen. In Polen schaffte es die Zeitschrift Res Publika Ende der 1980er Jahre sogar aus dem Untergrund per amtlicher Zulassung in den offiziellen Vertrieb. In diesem Kapitel wird Öffentlichkeitswandel am deutlichsten, da Domnitz aufzeigen kann, wie oppositionelles Denken in die ursprünglich den Herrschenden vorbehaltene Öffentlichkeitssphäre vordringt. Ein Fazit sowie ein Ausblick, der die gegenwärtigen zentraleuropäischen Debatten über Europa und vor allem die europäische Einigung vor dem Hintergrund des Nachdenkens über Europa vor 1989 einordnet, schließen die Arbeit ab.

Mit Hinwendung nach Europa hinterlässt Christian Domnitz, der wenige Monate nach dem Erscheinen der Studie verstarb, eine herausragend aktuelle und innovative Studie, die gleich auf mehreren Ebenen überzeugt. Zunächst legt er eine Kulturgeschichte des Nachdenkens über Europa vor, mit der er aufzeigt, dass es nicht erst der Wandel von 1989 war, der „Europa“ östlich des Eisernen Vorhangs zum Thema machte. Vielmehr, so legt Domnitz dar, hatte dieses Nachdenken von Polen, Tschechen, Slowaken und Deutschen in der DDR bereits einen Beitrag zur Überwindung der Blockgrenzen geleistet. Weiterhin macht er am Beispiel der Debatten über Europa den Wandel der Öffentlichkeitsstruktur in den westlichen Staaten des Ostblocks deutlich, indem sich zunächst die Grenzen das Sag- und Denkbaren weiteten, bevor sich schließlich die realen Grenzen öffneten.

Noch zwei weitere Aspekte verdienen Anerkennung: Zum einen ist das der gelungene Vergleich zwischen den drei untersuchten Staatssozialismen, der teils enorme Unterschiede herausstellt und dennoch analoge Entwicklungen nachvollziehbar macht. Zum Anderen überwindet Domnitz die eingeübte Vorstellung einer gegenseitigen Abschottung von Opposition und Regierungsseite. Er weist nicht nur am Beispiel konkreter Akteure Kontakte nach, sondern zeigt auch, wie beide Seiten in einer – wenn auch nicht gleichberechtigten – öffentlichen Debatte um Aufmerksamkeit und Zustimmung konkurrierten, was freilich eine gegenseitige Bezugnahme voraussetzte. Es steht zu hoffen, dass gerade diese Impulse in den Forschungen zur Kultur-, Gesellschafts- und vor allem auch zur Politikgeschichte der spätsozialistischen Staaten aufgenommen werden.

Stephan Stach, Prag

Zitierweise: Stephan Stach über: Christian Domnitz: Hinwendung nach Europa. Neuorientierung und Öffentlichkeitswandel im Staatssozialismus 1975–1989. Bochum: Winkler, 2015. 454 S. = Herausforderungen, 23. ISBN: 978-3-89911-225-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stach_Domnitz_Hinwendung_nach_Europa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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