Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 688-690

Verfasst von: Helena Srubar

 

Peter Hallama: Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015. 368 S., 8 Abb. = Schnittstellen Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, 1. ISBN: 978-3-525-30073-2.

Peter Hallama widmet sich in seiner Dissertationsschrift der Frage, welchen Stellenwert der Holocaust in der tschechischen Erinnerungskultur von 1945 bis zur 1989 einnahm. Erinnerungskultur versteht der Autor in Anlehnung an Peter Burke weniger als ein einheitliches kollektives Gedächtnis der politischen Elite bzw. der nationalen Meistererzählung, sondern als das Resultat vielfältiger Interaktionen unterschiedlicher sozialer Akteure und Erinnerungsgemeinschaften. Daher stellt er der offiziellen staatlichen Erinnerungspolitik der Tschechoslowakei die marginalisierte Erinnerungskultur der tschechischen jüdischen Gemeinde gegenüber. Indem er die Interaktionen zwischen staatlichen und jüdischen Akteuren beleuchtet, rekonstruiert er zum einen „mehrheitsgesellschaftliche Phänomene“ (S. 10), die den tschechischen Umgang mit der Shoah prägten, und bezieht gleichzeitig im Einklang mit dem „Passive Turn“ die Perspektive der Opfer mit ein.

Hierzu verwendet der Autor einen diskursanalytischen Ansatz, d.h. er trägt „möglichst viele und breit gestreute ,Aussagen‘ […] über die Ermordung der Juden während des Zweiten Weltkriegs zusammen“ (S. 26) und untersucht zu diesem Zwecke Gedenkfeiern, Denkmäler, geschichtswissenschaftliche Beiträge, Zeitzeugenaussagen sowie verschiedene Medien (Presse, Literatur,, Film usw.). Dabei stützt er sich auf vielfältiges Quellenmaterial aus zahlreichen Archivbeständen (z. B. die Bestände des Staatlichen Amts für Kirchenfragen 1949–1956, des Ministeriums für Schulwesen und Kultur 1956–1967 und des Sekretariats für Kirchenfragen im Kulturministerium 1967–1990 zur Tätigkeit der jüdischen Gemeinden, sowie den Bestand des Zentralausschusses des Verbands der antifaschistischen Kämpfer im Prager Nationalarchiv, den Bestand des Památník Terezín sowie das Archiv von Yad Vashem, die Central Zionist Archives bzw. die Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem).

Die Ergebnisse seiner umfangreichen Analyse präsentiert Hallama in mehreren „thematischen Problemfeldern“ (S. 13), die in drei Teile zerfallen:

Im ersten Kapitel wird „die Frage der Überlappungen und Differenzen in der Wahrnehmung von Zweitem Weltkrieg und Holocaust“ behandelt. Zunächst geht es um die gegensätzliche Bewertung des Holocaust in der tschechischen und jüdischen Erinnerung, herausgearbeitet am Begriff der „Endlösung“, der tschechischerseits primär für die geplante Ermordung nicht assimilationswürdiger Slaven/Tschechen durch die Nazis und erst sekundär für den Massenmord an den tschechischen Juden verwendet wurde, und die daraus resultierende Ansicht, die Tschechen neben den Juden als gleichberechtigte Leidtragende von Hitlers Rassenpolitik zu sehen. Dadurch jedoch wurde der Holocaust in seiner Singularität erfolgreich aus dem tschechischen Gedächtnis ausgeklammert und die Erinnerung an das jüdische Leid den Juden selbst überlassen. Dies zeigt sich auch am Beispiel Theresienstadts, das im tschechischen und jüdischen Gedächtnis für zwei völlig unterschiedliche Erinnerungen steht, nämlich für die Kleine Festung als Ort nationalen Leidens und für das Ghetto als Durchgangsstation zu den Vernichtungslagern im Osten. Auch hier wird die Marginalisierung des Holocaust im tschechischen Vergangenheitsdiskurs deutlich, denn im offiziellen Theresienstädter Gedenken standen lange die tschechischen (bzw. antifaschistischen) Opfer im Mittelpunkt. So wurden die ermordeten Juden stillschweigend der tschechischen Gesamtopferzahl einverleibt, ohne darauf zu verweisen, dass die jüdischen Opfer den größten Anteil der Toten darstellten.

Im zweiten Großkapitel geht es im Abschnitt Die ermordeten Juden: Opfer – Märtyrer – Helden? u. a. um die Diskriminierung von jüdischen Überlebenden in der staatlichen Entschädigungspraxis als Antifaschisten zweiter Klasse, d. h. im Zuge der Hierarchisierung der Opfer der NS-Herrschaft um die Deklassierung des passiven jüdischen Leidens im Gegensatz zum heroischen aktiven Widerstand.

Im Unterkapitel Patriotismus, Nationalismus, Ethnozentrismus behandelt Hallama das Verhältnis der tschechischen Gesellschaft zu den jüdischen KZ-Heimkehrern, das von einem starken Antisemitismus geprägt war, welcher jedoch als solcher nicht benannt und wahrgenommen wurde, da er Bestandteil antideutscher bzw. antikapitalistischer Ressentiments war und gleichzeitig als etwas per se Deutsches, dem tschechischen Wesen Fremdes aufgefasst wurde. Juden fanden sich unter den vertriebenen Deutschen, wurden als Germanisierer enteignet und lediglich als „Gäste“ geduldet, von denen die völlige Assimilation an die tschechische Nation erwartet wurde. Angesichts der vorherrschenden nationalistischen und antisemitischen Atmosphäre, die sich rund um die Slánský-Prozesse noch verschärfte, sahen auch die meisten Juden selbst die einzige Chance in völliger Anpassung. Zahlreiche Tschechisierungen deutscher Namen belegen dies ebenso wie die weit verbreitete Betonung ihres tschechischen Patriotismus in Gegenwart und Vergangenheit und sogar schon im Konzentrationslager.

Im dritten und abschließenden Kapitel zeichnet Hallama die erneute Zunahme von Nationalismus und Antisemitismus nach der Niederschlagung des Prager Frühlings bis 1989 nach. Auch nimmt er Samizdat und Dissens unter die Lupe, wo zwar Kritik am Antisemitismus und an der Marginalisierung der Shoah geübt wurde, die Geschichtsschreibung jedoch ebenfalls in nationalen Bahnen verlief.

Zusammenfassend kommt Hallama mit seiner Analyse zu folgenden Ergebnissen: Der Holocaust wurde von 1945 bis 1989 konsequent aus dem tschechischen Gedächtnis ausgeklammert. Dies lag nicht nur an politisch-ideologischen Vorgaben der (heraufziehenden) kommunistischen Ära, sondern hatte in erster Linie seine Wurzeln im tschechischen Nationalismus und Ethnozentrismus, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Zeit der „nationalen Ektase“ einen neuen Höhepunkt erlebte und eine völlig homogene Nation anstrebte, in der (auch) Juden als solche keinen Platz hatten. Während es im Westen ab den sechziger Jahren zu einer Pluralisierung der Erinnerungskultur mit einer Wende zur Perspektive der Opfer und der Absage an nationalistisch-heroische Geschichtsbetrachtungen kam, wurden die zarten Ansätze, die es auch im Prager Frühling in diese Richtung gab, in der Normalisierungszeit wieder zunichtegemacht und eine gesamtgesellschaftliche Öffnung und kritische Auseinandersetzung mit nationalistischen Vergangenheitsdiskursen unterbunden. Ethnozentrische und antisemitische Deutungsmuster aus der vorkommunistischen Ära blieben auf diese Weise bis 1989 unangetastet bzw. wurden im sozialistischen Gewand neu adaptiert, so dass sie unreflektiert bis in die Gegenwart überdauern konnten. Sogar nach 1989 kam es im Zuge des Siegs über die marxistische Geschichtsschreibung zu einer Wiederbelebung des Nationalen, weshalb der Holocaust aus den dargelegten Gründen auch heute noch überwiegend aus dem nationalen tschechischen Meisternarrativ ausgenommen ist.

Wenn man sich mit dieser Thematik bereits auseinandergesetzt hat, überraschen einen Hallamas Ergebnisse wenig. Leider. Dank ihm wird diese Ergebnisse aber auch niemand mehr leugnen können. Die erschütternde Fülle an Beispielen, die er in seinem Buch zusammengetragen und überzeugend präsentiert hat, spricht für sich.

Helena Srubar, Linz

Zitierweise: Helena Srubar über: Peter Hallama: Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015. 368 S., 8 Abb. = Schnittstellen Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, 1. ISBN: 978-3-525-30073-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Srubar_Hallama_Nationale_Helden.html (Datum des Seitenbesuchs)

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