Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 689-691

Verfasst von: Paul Srodecki

 

Tanja Zimmermann: Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen. Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2014. X, 504 S., 120 Abb. = osteuropa medial, 6. ISBN: 978-3-412-22163-8.

Dass „der Balkan […] nicht nur ein Produkt der kulturellen und politischen Imaginationen des Westens“, „sondern […] vielmehr im Fadenkreuz der Blicke aus Ost und West“ entstanden sei, weiß das vorliegende Buch zu berichten (Klappentext). Bei der Monographie handelt es sich um die überarbeitete Version einer im Juni 2011 an der Uni­versität Konstanz eingereichten Habilitationsschrift. Auf etwa 440 Seiten (Haupttext) widmet sich Tanja Zimmermann dem Versuch, die unterschiedlichen medialen Balkan-Narrative seit dem Niedergang der philhellenischen Begeisterung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur post-jugoslawischen Periode nachzuzeichnen. Dabei fragt die Autorin nach der Genese und Übertragung unterschiedlicher kulturpolitischer Entwürfe eines „dritten Raumes“ – vom Niemandsland bis zum jugoslawischen blockfreien „dritten Weg“.

Zimmermann gliedert ihre Untersuchung inklusive Einleitung und einer abschließenden Zusammenfassung in insgesamt acht Kapitel. Nach einer kurzen Einführung, in der sie den thematischen Rahmen der Abhandlung absteckt sowie die relevanten spezifischen Fachtermini erläutert, geht die Autorin in den folgenden zwei Kapiteln auf die im südosteuropäischen Raum des 19. Jahrhunderts dominierenden supranationalen Ansätze und Völkerstereotype des Philhellenismus, Orientalismus und Panslawismus ein. Beleuchtet werden hierbei die in ihrer Wirkung weitreichenden Schriften und Thesen Jakob Philipp Fallmerayers, Cyprien Roberts, Aleksandr Puškins, Viktor Tepljakovs, Michał Czaj­kowskis, Michail Lermontovs, Ivan Turgenevs, Gleb Uspenskijs oder Benjamin Kállays. Zimmermann behandelt im anschließenden vierten Kapitel kurz die mannigfaltigen Balkanbilder in den Reiseberichten vom 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert.

Recht ausführlich skizziert die Verfasserin im fünften Abschnitt ihrer Untersuchung den sogenannten „dritten Weg“ der SFR Jugoslawien unter dem langjährigen Ministerpräsidenten (1943–1963) bzw. Staatspräsidenten (1953–1980) Josip Broz Tito. Zimmermann gelingt es hier recht eindrucksvoll, die mediale Legitimierung des Föderationsstaates unter Titos Herrschaft nachzuzeichnen. Beschrieben werden die so unwirklich wie abenteuerlich anmutenden medialen Propagandaauswüchse des jugoslawischen Sozialrealismus bzw., nach der Abkehr von diesem, des jugoslawischen „dritten Weges“, beginnend in der sich stark an sowjetischen Vorbildern orientierenden unmittelbaren Nachkriegszeit mit dem Partisanenfilm In den Bergen Jugoslawiens (1946) des Abram Room als Beispiel par excellence, über die „schablonenhafte Befreiung von der sowjetischen Schablone“ (S. 179) und die Anfänge des Titotismus in den Jahren nach dem Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform im Juni 1948, bis hin zur Ausprägung und Verfestigung des „dritten Weges“ und seiner Aufarbeitung in Kunst und Medien.

Die Verschränkung von Politik und Religion steht im Zentrum des sechsten Kapitels Die Wiederkehr der Mythen: Erinnerungspolitik. Anhand des in Anlehnung an die Schlacht auf dem Amselfeld (1389) entstandenen Kosovo-Mythos, das „im Fadenkreuz der politischen Interessen und Machtkonstellationen zum zentralen Mythos der Integration und Desintegration auf dem Balkan“ avanciert sei, analysiert Zimmermann die konstruktiven wie destruktiven Seiten von mythischen Erinnerungsnarrativen. So habe die Hervorhebung der verbindenden und integrativen Elemente des Kosovo-Mythos durch den britischen Historiker Robert William Seton-Watson, den Philosophen und späteren tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš G. Masaryk oder den Bildhauer Ivan Meštrović während seiner großen Ausstellung Kosovo-Fragmente in London in den Jahren 1915–1916 einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Gründung des ersten jugoslawischen Staates geleistet. Dem stellt Zimmermann die destruktive Umkehrung des Kosovo-Mythos durch die serbischen Nationalisten unter Slobodan Milošević in den Jahren 1989–1989 entgegen und konstatiert: „Aus dem transnationalen Mythos der Integration wurde ein nationaler Mythos der Desintegration und der erneuten Polarisierung zwischen Ost und West.“ (S. 23)

Hieran anschließend widmet sich die Autorin noch einmal in dem Kapitel Thanatologische Phantasmen der Balkan-Kriege dezidiert der Bild- und Medienpolitik während der jugoslawischen Zerfallskriege der 1990er Jahre. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei vor allem dem Bosnienkrieg von 1991–1995 eingeräumt, der wie kein anderer der Jugoslawienkriege des ausgehenden 20. Jahrhunderts das Balkan-Bild in den Medien prägte. Zimmermann zeigt, „dass der Balkan zum Ort für die Anwendung der postmodernen Theorien der Simulakren wurde.“ So hätten sich nicht nur Bild und Realität miteinander vermischt. Ferner sei auch schließlich „die Realität […] durch das Bild ersetzt“ worden. (S. 23)

Mit der vorliegenden, interdisziplinär angelegten Studie ist Tanja Zimmermann zweifelsohne ein wichtiger und erfrischender kulturwissenschaftlicher Beitrag zur Südosteuropa-Forschung gelungen. Das Buch besticht durch seine Detailliertheit und bietet einen guten Überblick zur medialen Generierung der Balkan-Bilder vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Stören mag einzig – zumindest in der zweiten Hälfte des Bandes – die thematische Fokussierung auf Jugoslawien und die Gleichsetzung der dort geführten Balkandiskurse mit dem ganzen Balkanraum. Hier wäre vor allem ein Vergleich der jugoslawischen mit den albanischen, bulgarischen, griechischen oder rumänischen Balkan­narra­tiven wünschenswert gewesen, weisen sie doch zahlreiche Parallelen, aber ebenso viele interessante Unterschiede in dem hier behandelten Zeitraum auf.

Paul Srodecki, Gießen

Zitierweise: Paul Srodecki über: Tanja Zimmermann: Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen. Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2014. X, 504 S., 120 Abb. = osteuropa medial, 6. ISBN: 978-3-412-22163-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Srodecki_Zimmermann_Balkan_zwischen_Ost_und_West.html (Datum des Seitenbesuchs)

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