Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 494-496

Verfasst von: Walter Sperling

 

Frithjof Benjamin Schenk: Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter. Stuttgart: Steiner, 2014. 456 S., 24 Abb., 1 Kte. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 82. ISBN: 978-3-515-10736-5.

Die Historiographie des Zarenreiches hat Raum in Russland lange als Distanz interpretiert. Angeregt vom „spatial turn“ in den Geschichts- und Kulturwissenschaften hat sich Frithjof Benjamin Schenk als einer der ersten der Überwindung dieser Distanz zugewandt und sie in sozial- und kulturhistorischer Perspektive ergründet. Seine im Herbst 2014 erschienene Habilitationsschrift fragt nach den Auswirkungen der Eisenbahn auf die „sozialräumlichen Strukturen“ (S. 16) des multiethnischen Imperiums. Statt der Modernisierung das Wort zu reden, setzt sich die Arbeit kritisch mit dem Mythos der Moderne auseinander, der die Eisenbahnen vorwiegend im positiven Licht erscheinen lässt. Damit leistet die Studie einen Beitrag zur Erforschung nicht allein imperialer Infrastrukturen. Sie reiht sich ebenso ein in eine Historiographie, die den nicht intendierten destruktiven Auswirkungen der Moderne am Rande Europas nachgeht. Zeitlich setzt die Monographie in der Epoche Nikolaus I. ein, als in Europa allerorten über die Notwendigkeit der neuen schnellen Verkehrsverbindungen diskutiert wurde. Russlands Fahrt in die Moderne verfolgt sie bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, als die Katastrophen der Revolutionen und des Bürgerkrieges sich bereits abzuzeichnen begannen.

Die gut lesbare Arbeit geht ihrer Frage auf vier thematischen Feldern nach, die jeweils ein Kapitel umfassen. Anstatt die Geschichte der Eisenbahn als eine politische Werdungsgeschichte zu erzählen, legt Frithjof Benjamin Schenk in Kapitel zwei die Diskursformationen frei, die das Sprechen über den Themenkomplex Eisenbahn und Raum bestimmten. Dabei folgt er vor allem den hauptstädtischen Debatten, die teils öffentlich, teils im Halbdunkel der Kabinette ausgetragen wurden. Der Autor kann zeigen, dass den Diskussionen unterschiedliche Raumentwürfe zugrunde lagen, etwa Russland als politisches Territorium, als Nationalökonomie, als Industrienation oder als Imperium mit Zivilisierungsmission, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlicher Weise auf den Ausbau des Eisenbahnnetzes auswirkten. Welche epistemologischen Grundlagen, und nicht nur politischen Kontexte, die Raumbilder jeweils bestimmten, wird dabei nicht immer klar.

Während räumliche Ordnungsvorstellungen das Eisenbahnnetz ausprägten, so strukturierte das „technische Ensemble“ – das Schienengeflecht, die Eisenbahnzeit, die Kursbücher, die Eisenbahnreiseführer, die „Klassengesellschaft“ in den Bahnhöfen und den Abteilen und vieles mehr – den sozialen Raum neu. Die Wirkungsmacht dieses Ensembles hat Wolfgang Schivelbusch in seiner Monographie Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit in (West-)Europa bereits vor vielen Jahren (München 1977) freigelegt. Frithjof Benjamin Schenk greift diese klassische Pionierstudie auf und zeigt, dass der Homogenisierung von Raum und Zeit im östlichen Europa Grenzen gesetzt waren. Gewiss, man hätte es bei der Feststellung dieses Unterschiedes Russlands zu Westeuropa und den USA belassen können. Trotz eindrücklicher Entwicklungen, die die Besucher von Weltausstellungen bestaunten, blieb das Zarenreich ein „äußerst heterogener Verkehrsraum“ (S. 120). Noch um 1900 leistete der Raum in Russland Widerstand, wie Roland Cvetkovski es in seiner epochenübergreifenden Studie zu Modernisierung durch Beschleunigung: Raum und Mobilität im Zarenreich festgehalten hat (Frankfurt 2006). Doch der Rückständigkeitsbefund hält Frithjof Benjamin Schenk nicht davon ab, der Frage nach dem Wandel nachzugehen. Auch die finanzstarken westeuropäischen Imperien, so könnte man argumentieren, prägten jenseits ihrer Metropolen keine homogenen Verkehrsräume aus, so sehr sie auch einem „Eisenbahnimperialismus“ frönten. Entscheidender ist hingegen, inwieweit die noch so unvollkommenen Raumanordnungen in das Gefüge der Gesellschaft eingegriffen und damit nicht nur Fortschritt, sondern auch die „inneren Friktionen“ (S. 214) der imperialen Gesellschaft hervorgebracht haben.

Die sozialen Auswirkungen der Mobilität stehen in Kapitel vier im Mittelpunkt. Die bäuerliche Kultur, wie man sie in Sprichwörtersammlungen der bewahrenden Volkskunde findet, mag sich gegen die Beschleunigung der Zeit gesperrt haben. Doch die Passagierzahlen sprechen für sich. Nach der Jahrhundertwende brach sich die Mobilität Bahn und schloss zunehmend auch die unteren Schichten ein, die immer kürzere Distanzen mit der Eisenbahn überwanden. Doch was bedeutet diese quantitative „Demokratisierung“ (S. 224) des Verkehrsmittels, das in den Revolutionsjahrzehnten auch Soldaten, Sträflinge und Verbannte transportierte? Um uns einen Eindruck davon zu vermitteln, wie Mobilität wahrgenommen wurde, hat Frithjof Benjamin Schenk zu Reiseberichten gegriffen, die publiziert waren und somit die Wahrnehmungen der schweigenden Reisenden mitprägten. Das Ergebnis ist eindrücklich, doch nicht überraschend: Der anfängliche Geschwindigkeitsrausch legte sich mit der Zeit, denn die Menschen gewöhnten sich an das (im nordwesteuropäischen Maßstab) bescheidene Tempo der russischen Bahnen. In den selbst beim gutsbesitzenden Adel beliebten Wagons dritter Klasse prallten Welten aufeinander. Dasselbe gilt auch für die Bahnhöfe, wo sich nicht nur Bauern und der hohe Adel, sondern ebenso Frauen und Männer begegneten; Tolstois „Kreuzersonate“ lässt grüßen. Und ja, auch in Russland förderte die Eisenbahnreise die Aneignung des imperialen Raumes – man denke etwa an die Fahrten zu den Bädern in den Kaukasus oder auf die Krim und die dazu gehörenden Bilder und Berichte. Die Orte und die Menschen mögen andere gewesen sein, doch Russlands Reiseberichte liefern lediglich Stoff für eine ganz ‚normale europäische Geschichte.

Nachdem auch die Raumwahrnehmungen nach Sibirien reisender Kolonisten abgehandelt sind – wieder auf der Grundlage publizierten Quellenmaterials – wendet sich der Autor dem Komplex Eisenbahn und Herrschaft zu. Dank der Eisenbahnen konnten Russlands Monarchen mehr als bisher reisen und, jetzt ganz modern, ihre „Szenarien der Macht“ (Richard Wortman) entfalten. Durch ihre Reisen, und die zunehmende Berichterstattung, entwarfen die Mitglieder der Zarendynastie die räumliche Ordnung des Imperiums neu. Je mehr sie sich aber öffentlich zeigten, desto stärker forderten sie den Widerstand Radikaler heraus und machte sich für Terroranschläge verwundbar. Herrschaft blieb im Zarenreich bekanntlich nicht auf Repräsentationen beschränkt. Auch die Unruhen und Aufstände, etwa der Januaraufstand 1863, wurden Dank der neuen Verkehrsverbindungen rascher niedergeschlagen worden als bisher. Ebenso auch die Revolution von 1905, die indessen erst durch das Eisenbahnnetz, durch Generalstreik, Terror und Gewalt Durchschlagskraft erlangte. Die Raumplaner versprachen der Autokratie, die staatliche Ordnung durch Eisenbahnen zu stärken. Dasselbe hofften die Eliten der Gesellschaft, die sich von der Eisenbahn die Lösung vieler sozialer Probleme erhofften. Doch die neuen Infrastrukturen erwiesen sich als ambivalent. Sie hatten dies mit vielen anderen Projekten der Moderne gemein.

Russland hatte also den „Zug der Zeit“ nicht verpasst. Dies macht uns das eher erzählende denn explorierende Buch von Frithjof Benjamin Schenk klar. Die Europäisierung mag – nicht zuletzt aufgrund der räumlichen und wirtschaftlichen Bedingungen – zögerlich vorangeschritten sein. Doch die Dynamiken liegen auf der Hand. Wir, Historiker und Historikerinnen des vorrevolutionären Russlands, können also einmal mehr auf unseren Gegenstand schauen und uns ein weiteres Mal vergewissern, dass unser Russland kein Stiefkind des Fortschritts sei. Nicht die Revolution von 1917 hat die Keime der modernen und demokratischen Gesellschaft zerstört, wie noch die Optimisten unter den Russlandhistorikerinnen und ‑historikern geglaubt haben, sondern der Druck und der Aufprall der Moderne im östlichen Europa. Auch der Starrsinn hat dazu beigetragen, den die Autokratie an den Tag legte, aber auch die konservativen Eliten, die liberalen Reformkräfte, die Nationalisten, die Revolutionäre, die Terroristen und ganz gewiss auch die „lokalen Gesellschaften“ in der Provinz.

Walter Sperling, München

Zitierweise: Walter Sperling über: Frithjof Benjamin Schenk: Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter. Stuttgart: Steiner, 2014. 456 S., 24 Abb., 1 Kte. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 82. ISBN: 978-3-515-10736-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Sperling_Schenk_Russlands_Fahrt_in_die_Moderne.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Walter Sperling. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.