Árpád von Klimó Ungarn seit 1945. Verlag Van­denhoeck & Ruprecht Göttingen 2006. 256 S., 16 Tab. = Europäische Zeitgeschichte, 2.

Klimó verfolgt die Selbstverortung Ungarns im Spiegel seiner Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anhand von vier Leitfragen:

  1. 1.Ist überhaupt eine Kontinuität des ungarischen Staates und wenn ja, unter welchen Koordinaten, auszumachen? Kann man von einer „Verwestlichung“ der ungarischen Gesellschaft, womöglich vor 1989 zu sprechen? 

  2. 2.Welche Veränderungen traten infolge der „Sowjetisierung“ von Wirtschaft und Gesellschaft ein? Entwickelte dieses Land eine ganz besondere Form des Staatssozialismus? 

  3. 3.Welche Besonderheiten lassen sich im kulturellen Wandel – nicht allein auf der Ebene der Hochkultur, sondern vor allem im Alltag der Menschen – festhalten? 

  4. 4.Welchen Einfluss hatte das (nicht selten imaginäre und verklärte) „Europa“ für die Elite? 

Das „Schlüsselereignis“ ungarischer Nachkriegs­geschichte ist für den Autor der Aufstand von 1956, dessen Deutung bzw. Bewertung tatsächlich bis heute heftig diskutiert wird. So beginnt Klimó nicht nur seine Darstellung mit der Schilderung der Ereignisse von 1956, sondern er macht sich auch die These des finnischen Ungarnexperten Heino Nyyssönen zu eigen, der im Transformationsjahr 1989 eine „Wiederauferstehung“ von 1956 sehen will, und reflektiert aufmerksam die Veränderungen in der Erinnerungskultur im Wandel der Zeit. Zugleich wird aber dankenswerterweise auch gezeigt, wie tradierte, „historische“ Bilder und My­then 1956 reaktiviert und teilweise mit neuem Inhalt gefüllt werden konnten, weil das kommunistische „Rákosi-.Regime“ ab 1948 sich solcher Mythen bediente bzw. sie instrumentalisierte.

Das Buch ist flüssig und gut lesbar geschrieben, die fehlenden Fußnoten aber werden spätestens dann vermisst, wenn der Leser auf Formulierungen trifft wie „österreichische Besatzungsarmee“ (S. 17) oder „Diskriminierungsmaßnahmen der Habsburger im 18. Jahrhundert“ (S. 15). Die einzelnen Hauptkapitel sind auch in sich schlüssige Einheiten, machen aber dank der Querverweise ein rasches Nachschlagen möglich. Da im Kapitel 5 „Soziale Strukturen und Mobilität“ mehr Bezug auf die Zusammenhänge von vor 1945 genommen wird, sind die komplexen Ausführungen verständlicher. Die meisten Neuigkeiten werden Ungarnkenner im Kapitel 6 „Lebensstile im Wandel“ finden, das zu den Höhepunkten dieses Buches gehört. Ob man Gyula Szekfű als „größten ungarischen Historiker“ bezeichnen kann und muss, ist fraglich. Ebenso diskussionswürdig sind Aussagen wie die, dass die Habsburger Ende des 17. Jahrhunderts infolge einer „Eroberung“ die ungarische Krone erlangt hätten (S. 14) oder dass Minderheiten „hauptsächlich Resultat von Minderheitenpolitikern“ seien (S. 168).

Insgesamt bietet diese Monographie nicht nur Kennern, sondern auch den übrigen an Ungarn Interessierten viel Neues und Lesenswertes. Ausgerechnet die jüngste politische Entwicklung zeigt aber deutlich, dass pessimistische Stimmen eher Recht haben als die Ausblicke des generell optimistisch veranlagten Autors, da Ungarn es beispielsweise auf wirtschaftlichem Gebiet immerhin geschafft hat, vom einstigen „Musterknaben“ zum Schlusslicht der Transformationsländer zu werden.

Norbert Spannenberger, Leipzig

Zitierweise: Norbert Spannenberger über: Árpád von Klimó: Ungarn seit 1945. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Goettingen 2006. = Europaeische Zeitgeschichte, 2. ISBN: 978-3-525-03751-5, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 464-465: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Spannenberger_Klimo_Ungarn.html (Datum des Seitenbesuchs)