Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 136-138

Verfasst von: Galina Smagina

 

Karin Reich / Elena Roussanova: Formeln und Sterne. Korrespondenz deutscher Gelehrter mit der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg. Briefe von Johann Wilhelm Andreas Pfaff, Johann Sigismund Gottfried Huth, Wilhelm Struve, Martin Bartels, Magnus Georg Paucker aus der Autographensammlung von Wilhelm Stieda in der Universitätsbibliothek Leipzig. Aachen: Shaker, 2013. 435 S., 43 Abb. = Relationes, 13. ISBN: 978-3-8440-2450-0.

Es ist zweifellos als großer Gewinn für die historische bzw. wissenschaftshistorische Forschung anzusehen, dass im Rahmen eines Projekts der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig die wissenschaftlichen Beziehungen der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg untersucht werden: Es geht in der vorliegenden Edition um fünf Briefwechsel aus der Autographensammlung von Wilhelm Stieda, die, mit umfangreichen Kommentaren versehen, herausgegeben werden. Jeder Osteuropahistoriker, der zum 19. Jahrhundert forscht, kennt den Namen des Wirtschaftshistorikers Wilhelm Stieda, der zahlreiche bereits „klassisch“ gewordene Werke zu den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen verfasst hat. Bis vor kurzem war nur wenig bekannt, dass die Universitätsbibliothek Leipzig über Stiedas umfangreiche Autographensammlung verfügt.

Die beiden Autorinnen haben sich bereits bei der Arbeit am Projekt Carl Friedrich Gauß und Russland als gutes Team erwiesen (siehe: Carl Friedrich Gauß und Russland. Sein Briefwechsel mit in Russland wirkenden Wissenschaftlern. Unter Mitwirkung und mit einem Beitrag von Werner Lehfeldt. Berlin, Boston 2011. = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. N.F., 16). Während der Recherchen zu diesem Thema hat Karin Reich Briefe mehrerer deutschstämmiger, im Russischen Kaiserreich tätiger Wissenschaftler in der Autographensammlung von Wilhelm Stieda in Leipzig ermittelt. Diese Briefe versprachen interessante Informationen für die Erforschung sowohl der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen als auch der internationalen wissenschaftlichen Kontakte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg. Diese Hoffnung hat der Editionsband Formeln und Sterne voll und ganz bestätigt.

Der Band beginnt mit einer Einleitung, in der das Ziel des Editionsvorhabens erläutert sowie die fünf ausgewählten Briefwechsel im historischen Umfeld diskutiert werden. Es folgt eine Skizze des Lebens und des Werks von Wilhelm Stieda (1852–1933) sowie eine Übersicht über die Autographen, die sich in seinem Nachlass befinden. In den darauffolgenden Kapiteln werden zwei Ständige Sekretäre der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg vorgestellt, Nikolaus Fuß (1755–1826) sowie sein Sohn und Nachfolger Paul Heinrich Fuß (1798–1855), an die die edierten Briefe, die alle in deutscher Sprache verfasst sind, gerichtet wurden.

Die Autoren der Briefe wirkten vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Den Reigen der hier vorgestellten Briefwechsel mit der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg eröffnen die Briefe von Johann Wilhelm Andreas Pfaff (1774–1835) an Nikolaus Fuß. Der in Stuttgart geborene Pfaff war der Bruder des berühmten Mathematikers Johann Friedrich Pfaff, der Ehrenmitglied der St. Petersburger Akademie war. Empfohlen von seinem Bruder, bekleidete Johann Wilhelm Andreas Pfaff von 1804 bis 1809 die erste Professur für Reine und Angewandte Mathematik (einschließlich Astronomie) an der 1802 eröffneten Universität Dorpat (heute Tartu). Pfaff verstand es, das Interesse seiner Studenten an den exakten Wissenschaften zu wecken, z.B. im Falle von Magnus Georg Paucker und Wilhelm Struve. Des Weiteren wurde Pfaff damit beauftragt, eine neue Universitätssternwarte zu errichten. Pfaff entfaltete in Dorpat eine rege wissenschaftliche Tätigkeit; seine Abhandlungen ließ er Nikolaus Fuß in St. Petersburg zukommen. 1807 wurde Pfaff zum Korrespondierenden Mitglied der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften gewählt. Alle Briefe von Pfaff in der Autographensammlung von Stieda stammen aus seiner Dorpater Zeit. Sowohl die Briefe selbst als auch das durch umfassende Recherchen ermittelte Material liefern neue wertvolle Informationen zu Johann Wilhelm Andreas Pfaff und seinen Aktivitäten in Russland.

Über den in Roßlau in Anhalt geborenen Johann Sigismund Gottfried Huth (1763–1818) gibt es bislang keine umfassende Biographie – zu Unrecht, wie der Beitrag in Formeln und Sterne beweist. Huth wirkte am Pädagogium und an der Universität Halle, bevor er 1789 als Professor für Physik und Mathematik an die Universität Frankfurt an der Oder berufen wurde. In der wissenschaftlichen Welt wurde er als Entdecker von vier neuen Kometen bekannt. Auf der Flucht vor den Wirren der Napoleonischen Kriege kam er 1808 an die Universität Char’kov, wo er als Professor für Angewandte Mathematik wirkte. 1811 vertauschte er Char’kov mit Dorpat und war dort bis zu seinem Lebensende 1818 als Professor für Reine und für Angewandte Mathematik tätig. Laut der Darstellung der Autorinnen ließ in Dorpat Huths wissenschaftliche Tätigkeit nach, aber seine ausgezeichneten Qualitäten als Hochschullehrer sind der Universität Dorpat in besonderem Maße zugutegekommen. Ein Kapitel ist Huths Abhandlung über die Theorie der Lichtgeschwindigkeit gewidmet, ein besonders interessantes Thema. Huths Bestrebungen, Korrespondierendes Mitglied der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften zu werden, scheiterten an einem vernichtenden Gutachten von Friedrich Theodor Schubert (1758–1825) über Huths Abhandlung. Die Edition dieses Gutachtens sowie der Briefe Huths an seinen Freund Ludwig Heinrich Jacob (1759–1827) in Halle ergänzen die Edition von Huths Briefen an Nikolaus Fuß (Frankfurt/Oder, Char’kov, Dorpat).

Die Briefe des berühmten deutsch-russischen Astronomen Friedrich Georg Wilhelm Struve (1793–1864) an die St. Petersburger Akademie betreffen seine Zeit in Dorpat. Der junge talentvolle und zielstrebige Gelehrte begann gerade seine wissenschaftliche Laufbahn und teilte Nikolaus Fuß die ersten Ergebnisse seiner astronomischen und geodätischen Arbeiten sowie seine Zukunftspläne mit. Im Januar 1822 wurde Struve zum Korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg ge­wählt. Die in ihren historischen Rahmen eingebetteten Briefe von Struve, die die Autorinnen präsentieren, gestatten auch einen Blick auf die Beziehungen, die Struve mit seinen deutschen Kollegen unterhielt.

Der Braunschweiger Mathematiker Johann Martin Christian Bartels (1769–1836) suchte in Russland eine sichere Stelle für sich und seine Familie während der schwierigen Zeit der zahlreichen Napoleonischen Kriege. Nikolaus Fuß war es zu verdanken, dass Bartels 1808 an die noch junge, östlichste europäische Universität Kazan’ als Professor für Mathematik berufen wurde. Nach vielen erfolgreichen Jahren wechselte Bartels 1821 als Professor für Reine und Angewandte Mathematik an die Universität Dorpat. Noch von Nikolaus Fuß eingefädelt, wurde Bartels während der Amtszeit von Paul Heinrich Fuß 1826 zum Korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg gewählt. Mit Nikolaus und Paul Heinrich Fuß unterhielt Bartels sowohl wissenschaftliche als auch sehr persönliche, vertraute Beziehungen. Bartels war in das Netzwerk der wissenschaftlichen Großfamilie Euler integriert, deren Begründer der Mathematiker Leonhard Euler war. Die von den Autorinnen edierten Briefe von Bartels aus Kazan’ und Dorpat sowie weitere zahlreiche, in der Forschung bislang unbekannte bzw. noch nicht veröffentlichte Dokumente erweitern die Kenntnisse über diesen bedeutenden Mathematiker und Hochschullehrer, der bis zu seinem Lebensende 1836 im Russischen Kaiserreich blieb und dem Russland viele Nachwuchsmathematiker, darunter Lobačevskij in Kazan’ und die Brüder Senff in Dorpat, zu verdanken hat.

Im letzten Block wird der Briefwechsel von Magnus Georg Paucker (1787–1855) mit Nikolaus und Paul Heinrich Fuß ediert. Paucker begann seine wissenschaftliche Laufbahn an der Sternwarte in Dorpat. Von 1813 bis 1846 war er als Oberlehrer der mathematischen und physikalischen Wissenschaften am Gymnasium illustre in Mitau (heute Jelgava) tätig. Rufe an die Universität Dorpat sowie an die Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg lehnte er ab. Pauckers wissenschaftliche Interessen betrafen Mathematik, Astronomie, Geodäsie, Metrologie sowie Meteorologie. Alle seine Beschäftigungsfelder erwähnte er in seinen Briefen an die Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg. Ferner sorgte er dafür, dass die Akademie mit seinen wissenschaftlichen Beiträgen versorgt wurde. 1822 wurde er zum Korrespondierenden Mitglied der Akademie gewählt. Für sein grundlegendes Handbuch der Metrologie Rußlands und seiner deutschen Provinzen wurde ihm 1832 der ehrenvolle Demidov-Preis zuerkannt. Mehrere Veröffentlichungen Pau­ckers sind auch in der Handbibliothek des berühmten Göttinger Mathematikers Carl Friedrich Gauß nachgewiesen. Der hier vorgestellte Briefwechsel Pauckers mit Nikolaus und Paul Heinrich Fuß umfasst die Zeit von 1812 bis 1834 und enthält viele wertvolle Informationen.

Alle fünf hier edierten und kommentierten Briefwechsel sind einheitlich aufgebaut. Sie beginnen mit einem tabellarischen Lebenslauf, es folgen Miszellen zu Leben und Werk. In diesem Kapitel wird der jeweilige Korrespondent mehr oder weniger ausführlich vorgestellt. Dabei werden vor allem die mit den Briefen im Zusammenhang stehenden Themen genauer beleuchtet. In dem darauffolgenden Kapitel Aspekte des Briefwechsels werden zentrale Themen des jeweiligen Briefwechsels ausführlich behandelt. Die Briefedition enthält auch ein Verzeichnis der Briefe. Es ist zu betonen, dass im Textteil der Monographie zahlreiche weitere historische Dokumente ediert sind. Besonders wertvoll sind die Dokumente aus der St. Petersburger Filiale des Archivs der Russländischen Akademie der Wissenschaften sowie aus den Bibliotheken und Archiven in Tartu, Göttingen und Leipzig. Den Band schließen drei Verzeichnisse ab, nämlich ein Abbildungsverzeichnis, ein Literaturverzeichnis (S. 393–412) sowie ein Personenverzeichnis (S. 413–435).

Die Monographie, die dem facettenreichen akademischen Leben im Russischen Kaiserreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet ist, kann nicht nur dem Fach­publikum, sondern auch einem breiten Kreis interessierter Leser empfohlen werden. Es bleibt zu wünschen, dass in Zukunft noch weitere Briefwechsel aus dem Nachlass von Wilhelm Stieda in einer so vorbildlich gestalteten Edition wie dieser erscheinen werden.

Galina Smagina, Sankt Petersburg

Zitierweise: Galina Smagina über: Karin Reich / Elena Roussanova: Formeln und Sterne. Korrespondenz deutscher Gelehrter mit der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg. Briefe von Johann Wilhelm Andreas Pfaff, Johann Sigismund Gottfried Huth, Wilhelm Struve, Martin Bartels, Magnus Georg Paucker aus der Autographensammlung von Wilhelm Stieda in der Universitätsbibliothek Leipzig. Aachen: Shaker, 2013. 435 S., 43 Abb. = Relationes, 13. ISBN: 978-3-8440-2450-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Smagina_Reich_Formeln_und_Sterne.html (Datum des Seitenbesuchs)

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