Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 475‒477

Verfasst von: Gerhard Simon

 

Andrew Wilson: Belarus. The Last European Dictatorship. New Haven, London: Yale University Press, 2011. XII, 304 S., 18 Abb., 6 Ktn. ISBN: 978-0-300-13435-3.

Auf knapp 300 Seiten bietet dieses Buch eine Geschichte der Region, die heute Belarus heißt, und seiner Bewohner seit dem Mittelalter. Wie auch sonst bei Andrew Wilson ist diese Monographie materialreich, manchmal detailversessen und nicht immer leicht lesbar, trotz des gelegentlichen erfrischenden britischen Humors. Obwohl die postsowjetische Zeit deutlich mehr Platz erhält als die vorangehenden Epochen, sind die ersten Kapitel keineswegs ein Vorwort zu Lukašenka, sondern eigenständige, sorgfältig recherchierte und konzipierte Studien zu einzelnen demographischen, politischen, kulturgeschichtlichen Ereignissen und Strukturen. Das besondere Interesse des Autors gilt kontrafaktischen Reflexionen und nicht realisierten möglichen Entwicklungswegen; er spricht wiederholt vonfalse startsin der Geschichte von Belarus. Im Mittelpunkt des Forscherinteresses stehen kulturgeschichtliche Fragen von Wahrnehmungen und Identitäten. Wirtschafts- und Sozialgeschichte wird weitgehend ausgeklammert.

Dies Buch ist ganz bewusst von der Gegenwart her konzipiert. Das kommt u.a. darin zum Ausdruck, dass der Autor skrupulös alle geographischen und Eigennamen in ihrer belarussischen Variante wiedergibt. Darüber hinaus macht er den Leser mit einer überraschenden und bei uns weithin ungelesenen Fülle wissenschaftlicher und publizistischer Literatur in belarussischer Sprache bekannt, die, soweit sie die Gegenwart betrifft, aus Zensurgründen meist in Vilnius erscheint. Wilson hat sich seine aus früheren Monographien bekannte Skepsis gegenüber Nationalismen und Nationsbildung bewahrt. Deshalb stellt er einleitend die Frage, ob Belarus überhaupt ein richtiges Land ist. Seine Antwort:it may becoming one as I write“ (S. XI).

Am Anfang der politischen Geschichte steht das Fürstentum Polack, das im Rahmen der Rusin vormongolischer Zeit eine relative Unabhängigkeit von Kiew erlangte. Fürst Usiaslav baute in Polack Mitte des 11. Jahrhunderts, um seine Ansprüche zu unterstreichen, eine Sankt-Safija-Kathedrale, die es in der Russonst nur noch in Kiew und Novgorod gab. Die ethnogenetischen Theorien über die Homogenität oder mangelnde Homogenität der Kryviči und der anderen ostslawischen Stämme auf dem Territorium des Fürstentums Polack führen zu keinem schlüssigen Ergebnis.

Seit dem Entstehen einer belarussischen nationalen Identität im 20. Jahrhundert rückte das Großfürstentum Litauen in das Zentrum des nationalen Narrativs. Wilson zeigt, wie stark das Großfürstentum Litauen ostslawisch, d.h.  ruthenisch, d.h. proto-belarussisch geprägt war, eine ostslawisch-baltische Synthese. Die Großfürsten waren zwar ethnische Litauer, aber im Adel und in den Städten bildeten Litauer eine Minorität. Kultur, Schriftsprache und Kirche waren vor der Union von Lublin (1569) ruthenisch bestimmt. Die Amts- und Schriftsprache ruska movabestand aus Elementen des Kirchenslawischen und lokalen nord-ruthenischen, d.h. proto-belarussischen Dialekten. Ruthenisch blieb in verschiedenen Varianten bis 1697 Amtssprache im Großfürstentum und musste dann dem Polnischen weichen. 1722 wurde das letzte Buch in ruthenischer Sprache gedruckt. Zerstört und deshalb bald vergessen wurde diese eigenständige Kultur auf dem Territorium der heutigen Belarus vor allem durch den Krieg zwischen der Rzeczpospolita und Moskowien zwischen 1654 und 1667; Belarus verlor die Hälfte seiner Einwohner.

Ein weiterer, am Ende aber auch vergeblicher Start in eine eigenständige Entwicklung begann mit der Kirchenunion von Brest (1596). Entgegen dem sowjetischen und postsowjetischen Narrativso macht der Autor deutlichverschmolzen im 18. Jahrhundert in der Rzeczpospolita ruthenische Identität und unierte Kirche miteinander. Die Union war nach der Synode von Zamość (1720) eine voll ausgebildete eigenständige Konfession neben der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche. Etwa Dreiviertel der Bevölkerung auf dem Territorium der heutigen Belarus waren am Ende des 18. Jahrhunderts unierte Christen. Damit einher ging eine kulturelle, theologische und sprachliche Durchdringung aus dem Westen. Abgebrochen wurde diese Entwicklung durch die Teilungen Polen-Litauens, die das gesamte Territorium der heutigen Belarus dem Russischen Reich zuschlugen. Noch unter Katharina II. begann unmittelbar nach der Inkorporation in das Russische Reich die zwangsweise Konversion zur Orthodoxie und die Auflösung der unierten Kirche.

Während im 19. Jahrhundert überall in Europa die Nationalbewegungen Menschen und Staaten veränderten, verharrte der Identitätsdiskurs in diesem Niemands- oder Grenzland in einem vornationalen Stadium: Der sog.West-Russismussuchte Anlehnung an das imperiale Russland und seine Kultur, war antipolnisch und orthodox. Demgegenüber traten die Regionalisten (krajovcy) für die Bildung einer Art politischer Nation in der Zukunft ein, geformt aus den regionalen Gruppen der Belarussen, Juden, Polen und Russen. Keine dieser Diskurse verdichtete sich zu einer politischen Bewegung, ebenso wenig wie das Eigenbewusstsein der litauischen Juden oder Litwaken im Herzland des aschkenasischen Judentums.

Insofern war die Ausrufung der Belarussischen Nationalen Republik im März 1918 ein von der historischen Logik her eher unwahrscheinlicher Vorgang, der erst durch die bolschewistische Politik nachträglich mit Inhalt gefüllt wurde. Die belarussische nationale Identität formierte sich erst im 20. Jahrhundert und war deshalb in hohem Maß bolschewistisch geprägt. Der heroisch überhöhte Mythos vom Partisanenkrieg und vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg hat zusammen mit dem industriellen Aufbruch seit den 1960er Jahren Belarus zu der am stärksten sowjetisierten Republik der Sowjetunion gemacht. Andere Identitäten waren schwach und hatten dem Sowjetpatriotismus wenig entgegenzusetzen.

Die zweite Hälfte der Monographie erzählt ausführlich die postsowjetische Geschichte, die machtgeschichtlich seit 1994 die Geschichte von Lukašenka ist. Der geschickte Taktiker, rücksichtslose Machtpolitiker und geniale Täuscher war und ist auch deshalb erfolgreich, weil er in realistischer Einschätzung die Eliten und die Bevölkerung manipulierte, die ihn trugen. Wilson zeigt, wie alle Lukašenka unterschätzten: die russische Politik, die er mit dem Versprechen einer Wiedervereinigung mit Russland an der Nase herumführte, die Opposition in Belarus, die er mal mit Repressalien, mal mit Schein-Liberalisierung in die Falle lockte, und der Westen, dem von Zeit zu Zeit die Perspektive einer Anlehnung an Europa vorgegaukelt wurde. Tatsächlich ist sogar die von Condoleezza Rice geprägte Formel von derletzten Diktatur in Europaeine Unterschätzung, weil sie suggeriert, bald würde alles vorbei sein.

Statt dessenso macht der Autor deutlichhat Lukašenka ein geschlossenes System mit pragmatischer Manövriermasse geschaffen, das ihm auch nach beinahe zwei Jahrzehnten noch eine relative Zustimmung der Bevölkerung sichert, wenn auch natürlich nicht die gefälschten 80 %. Der Diktator profiliert sich als Nationsbildner mit einer vorsichtigen Belarussifizierung und gegenüber Russland einem eigenständigen historischen Narrativ. Ein informeller Sozialkontrakt hat den Menschen jedenfalls bis zur Wirtschaftskrise 2008 eine Verbesserung des Lebensstandards gebracht. Das System Lukašenkadieser Schluss legt sich dem Leser nahruht auf einer historisch gewachsenen politischen Kultur, die der Stabilität und der eisernen Faust mehr zutraut als der Freiheit.

Jede zukünftige Beschäftigung mit der Geschichte von Belarus wird sich mit Wilson auseinandersetzen müssen, der insofern ein Standardwerk vorgelegt hat.

Gerhard Simon, Köln

Zitierweise: Gerhard Simon über: Andrew Wilson: Belarus. The Last European Dictatorship. New Haven, London: Yale University Press, 2011. XII, 304 S., 18 Abb., 6 Ktn. ISBN: 978-0-300-13435-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Simon_Wilson_Belarus.html (Datum des Seitenbesuchs)

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