Ivan Katchanovski Cleft Countries: Regional Political Divisions and Cultures in Post-Soviet Ukraine and Moldova. With a foreword by Francis Fukuyama. ibidem-Verlag Stuttgart 2006. 296 S., Tab., Abb. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 33.

Dies ist eine insgesamt enttäuschende Monographie über ein wichtiges und faszinierendes Thema: die Gespaltenheit der Ukraine und Moldovas entlang von historischen, religiösen, ethnischen und vielen anderen Grenzen. Nach dem Ende der Sowjetunion und der Herrschaft der KPdSU entstehen am Rande Europas neue Staaten über alle diese Grenzen hinweg, aber vielleicht scheitert diese Staats- und Nationsbildung. Der Autor wird der selbst gestellten Aufgabe nicht gerecht, die Gespaltenheit zu untersuchen, weil er sich in das Prokrustesbett weniger Begriffe und Kategorien hineinzwängt, die nicht ausreichen, um die komplexe Realität abzubilden.

Und so sieht sein Schema aus: Die Ukraine und Moldova sind jeweils in einen östlichen und westlichen Landesteil gespalten. Im Osten wählen die Menschen pro-russische und pro-kommunistische Parteien und Politiker, im Westen dagegen pro-nationale und pro-westliche. Der Grund für diese unterschiedlichen Verhaltensmuster liegt ‒ nach Meinung des Verfassers ‒ im Wesentlichen in der Herkunft der Landesteile aus der früheren staatlichen Gemeinschaft mit Russland bzw. der Sowjetunion einerseits und aus der historischen staatlichen Zugehörigkeit zu Polen bzw. Österreich-Ungarn und Rumänien auf der anderen Seite. Zwar tragen Ethnos, Sprache, Religion auch bei zur Erklärung der unterschiedlichen politischen Einstellungen, aber entscheidend bleibt doch die Zugehörigkeit der gegensätzlichen Landesteile zur russischen oder zur nichtrussischen politischen und kulturellen Hemisphäre im 19. und 20. Jahrhundert. Die Datenquellen des Autors sind die Ergebnisse der Wahlen und Referenda seit 1990 sowie zahlreiche politische Meinungsbefragungen seit dem Ende des Kommunismus.

Das krass unterschiedliche Wählerverhalten innerhalb der Ukraine und die damit verbundenen unterschiedlichen politischen Grundhaltungen zu Fragen der inneren und äußeren Politik des Landes sind offensichtlich und gut dokumentiert. Diese wissenschaftliche Monographie gibt sich aber damit zufrieden, den seit langem bekannten Sachverhalt durch nicht enden wollende Zahlenkaskaden dem Leser immer neu einzuhämmern. Die zur Interpretation erforderlichen weiterführenden Fragen werden nicht gestellt. Sie lauten beispielsweise: Wo verläuft eigentlich die Grenze zwischen West und Ost innerhalb der Ukraine? Welche Veränderungen haben sich in den beiden vergangenen Jahrzehnten ergeben? Gehört die Zentralukraine mit Kiew zum Westen oder zum Osten oder zu keiner dieser Regionen?

Das Problem der Grenzen zwischen den östlichen und westlichen Landesteilen der Ukraine und Moldovas löst der Autor eindeutig, aber nicht überzeugend: Er erklärt die Grenzen von August 1939 zur Trennlinie von heute. Für Mol­do­va mag das angehen, denn die Quasi-Staats­grenze zwischen Transnistrien und dem Rest des Landes ist weitgehend identisch mit der Grenze von 1939. Im Fall der Ukraine verbaut sich der Autor dadurch wesentliche Einsichten und Fragestellungen. Während er die westlichen Landes­teile nach ihrer unterschiedlichen historischen Herkunft differenziert, wird alles östlich der Grenze von 1939 als Einheit in den Statistiken zusammengezogen, weil ja alle diese Regionen seit dem 19. Jahrhundert zu Russland bzw. der Sowjetunion gehörten.

Wenn die Daten sich nicht dem vorgefassten Schema fügen, werden sie beiseite geschoben. Weil die Ergebnisse der Referenda vom Dezember 1991 und April 2000 nicht in das quasi gesetzmäßige Muster passen, werden sie zu einer „anomaly“ (S. 104) erklärt. Juščenkos Wahl­sieg in der Zentralukraine im Dezember 2004 bedeutet keine Unterstützung für seine „ideology“, sondern erklärt sich aus seinem „personal charisma“ (S. 114). Mit diesen selbst gewählten Scheuklappen verbaut sich der Autor die Sicht auf entscheidende politische Veränderungen, näm­lich das allmähliche Vorrücken der orangen Parteien und Wahlblöcke „Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes“ und „Block Julija Tymošenko“ in die Zentralukraine. Natürlich sind Wahlverhalten und politische Attitüden nach wie vor regional geprägt, aber die Prozentanteile verschieben sich, und vor allem: Es gibt keine feste Grenze zwischen Ost und West, und schon gar nicht ist die Grenze von 1939 eine sol­che. Es besteht in der Ukraine nichts Vergleichbares zur Dnister-Grenze in Moldova.

Zu den positiven Aspekten dieser mit großem Aufwand und sorgfältig recherchierten Studie gehört die Darstellung einiger spezieller Themen wie der Gagauzen-Autonomie innerhalb von Moldova (S. 94ff.) sowie der Familiennetzwerke führender Politiker in der Ukraine (S. 204ff.). Warum allerdings die Unterstützung einer Föderalisierung der Ukraine als „separatism“ (S. 100) qualifiziert wird, bleibt unerklärt. Germanica non leguntur, selbst dann, wenn sie in englischer Übersetzung vorliegen. Eine Auseinandersetzung mit dem breiten Diskurs, der die Spaltungen innerhalb der Ukraine nicht leugnet, aber eine Zweiteilung für ein überholtes Stereotyp hält, findet nicht statt.

Gerhard Simon, Köln

Zitierweise: Gerhard Simon über: Ivan Katchanovski Cleft Countries: Regional Political Divisions and Cultures in Post-Soviet Ukraine and Moldova. With a foreword by Francis Fukuyama. ibidem-Verlag Suttgart 2006. 296 S., Tab., Abb. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 33. ISBN: 3-89821-558-X, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Simon_Katchanovski_Cleft_Countries.html (Datum des Seitenbesuchs)