Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 677-679

Verfasst von: Clemens P. Sidorko

 

Jeronim Perović: Der Nordkaukasus unter russischer Herrschaft. Geschichte einer Vielvölkerregion zwischen Rebellion und Anpassung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2015. 544 S., 31 Abb., 13 Ktn. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 49. ISBN: 978-3-412-22482-0.

Flüchtig betrachtet, erscheint die Geschichte des Nordkaukasus, besonders aber jene der Tschetschenen, im Verbund des russischen Machtbereichs als endlose Kette wechselseitiger Gewalt zwischen Zentralstaat und renitenten Berglern. Dieses rückwärtsgewandte Narrativ eines „dreihundertjährigen Kampfes“ möchte die anzuzeigende Zürcher Habilitationsschrift durchbrechen, indem sie auch die Abschnitte relativer Ruhe untersucht und danach fragt, mit welchen Strategien Zarenreich und Sowjetstaat ihren Herrschaftsanspruch durchsetzten, wie die Beherrschten dies begriffen und darauf reagierten und welche Loyalitäten und Identitäten sich in diesem Spannungsfeld ausbildeten.

Zwar ist dieser Ansatz nicht ganz so neu, wie Autor Perović suggeriert. Auch sein Verdikt, die westliche Forschung habe es bisher versäumt, spezifisch kaukasische Formen von Widerstand bzw. innergesellschaftliche Verwerfungen als Auslöser der Konflikte zu untersuchen, ist so kaum haltbar.

Stärken der dennoch bemerkenswerten Studie sind ihre gut verständliche Sprache und der klare Aufbau. Nach der Einleitung, welche neben eigenen Zielen Problemfelder und Schwachpunkte der bisherigen Forschung umreißt und Überlegungen zum Wesen von zarischem und sowjetischem Herrschaftsverständnis anstellt, wird die frühe Beziehungsgeschichte Russlands und der nordkaukasischen Völker vom 18. Jahrhundert über den Großen Kaukasischen Krieg bis zur Niederlage des legendären Imam Šamil 1859 referiert. Am anderen Ende der Schrift schlägt ein kurzer Ausblick den Bogen zur Gegenwart, das Schlusswort bündelt die gewonnenen Einsichten. Im Zentrum der Untersuchung steht indes die Epoche vom Abschluss der Eroberung durch das Zarenreich um 1860 über Revolution und Bürgerkrieg, zu dessen Hauptschauplätzen Nordkaukasien zählte, sowie die frühe Sowjetzeit bis zu den Deportationen der Tschetschenen und anderer lokaler Völker unter Stalin 1943/44. Perović verknüpft dabei die chronologischen Abläufe der oft komplexen Ereignisgeschichte geschickt mit thematischen Schwerpunkten wie zarischer Segregationspolitik, sowjetzeitlicher Totalkollektivierung oder dem steten Gegensatz von Stadt und Land. Die hier wirksamen Prozesse sollen zudem durch das Nachzeichnen typischer Einzelschicksale erfahrbar gemacht werden. Nun waren die Überläufer Kundukov und Avtorchanov (um 1865 bzw. 19201940), der Räuberhauptmann Zelimchan (um 1900) oder der Möchtegern-Widerstandsführer Israilov (1940 und folgende; die benutzte Hauptquelle, seine „Memoiren“, liegen übrigens nur in Auszügen des NKVD vor) gewiss farbige Zeitgenossen, an denen sich Schlüsselereignisse gut illustrieren lassen, und Perović weiß dieses Potential virtuos zu nutzen. Die angestrebte „Perspektive von unten“ wird dennoch verfehlt, weil die Fallstudien eben nicht die durchschnittliche Bevölkerung repräsentieren, über deren Befindlichkeiten man manchmal gern mehr erfahren hätte: Wie etwa bewältigte die Masse der gorcy („Bergler“) den Sprung in die Moderne, die sich ab der späten Zarenzeit mit Telegrafenmasten und Papiergeld, bald auch per Ölindustrie oder gar mit dem bei Muslimen zunächst umstrittenen Rübenzucker ins Gebirge drängte? Perović schildert zwar anschaulich das Schulwesen, wo bis zur Revolution wenigen staatlich-modernen eine Vielzahl traditionell-muslimischer Bildungseinrichtungen gegenüberstand. Welche Wandlungen das muslimische Milieu aber durch die Rezeption auswärtiger Neuerungen oder interner Reformströmungen wie des (im Russländischen Reich entstandenen) Dschadidismus erfuhr, dessen Gedankengut z. B. durch eine äußerst populäre Zeitung aus Dagestan in ganz Kaukasien Verbreitung fand, – derlei wird leider nicht thematisiert. Die Einheimischen erscheinen infolgedessen recht undifferenziert als traditionsverhaftete Masse mit einer schmalen modern gebildeten Elite, wobei Entstehung und soziale Verankerung der letzteren vage bleiben. Gerade weil es Perović andererseits vorzüglich gelingt, Diskurse, Entwicklung und Brüche der zarischen und sowjetischen Herrschaftspraxis sichtbar zu machen, bleibt hier ein störendes Ungleichgewicht.

Solche Kritik mag angesichts des unbestrittenen Faktenreichtums und der Stringenz der Schrift ungerecht sein. Besonders was Bürgerkrieg und Sowjetzeit angeht, vermittelt die Studie eine stimmige Deutung der Ereignisse und räumt mit vielen bis heute verbreiteten Mythen oder bewussten Fälschungen auf, die letztlich in der Propaganda des Sowjetstaates oder westlicher kalter Krieger fußen.

Sehr anschaulich werden daneben die Unterschiede zwischen zarischem und sowjetischem Regiment herausgeschält: Gelangte man vor 1917 nie über die Experimentalphase hinaus und begnügte sich mit passivem Stillhalten der Untertanen als Loyalitätsbeweis, so beanspruchten die Bolschewiki bedingungslose Teilnahme an ihrem Projekt einer sozialistischen Gesellschaft, womit man viele überforderte und in die Verweigerung trieb. Beiden Systemen glückte es allerdings nie, ihren Machtanspruch völlig durchzusetzen; nur Zugeständnisse und Kompromisse ermöglichten einen fragilen Burgfrieden zwischen Staat und Bevölkerung. Den Entschluss zur Deportation sämtlicher Tschetschenen und anderer Ethnien 1943/44 wertet Perović folgerichtig als Reaktion eines im Grunde schwachen Staates, der in der Art einer Jetzt-oder-nie-Entscheidung zum äußersten Mittel greift, um sein Machtmonopol zu retten. Unerklärt bleibt freilich das Auswahlprinzip: Weshalb traf es jene Völker, während andere wie die ebenfalls widerspenstigen Bergdagestaner davonkamen? Mehr zwischen den Zeilen lässt sich aus der Darstellung schließen, dass letztlich die stereotypenbeladene Wahrnehmung der Moskauer Zentrale diktierte, welche Ethnien als generell unzuverlässig galten und deshalb deportiert wurden.

Zu glatt gerät m. E. auch Perovićs Prämisse, dass man die aktuellen Konflikte nicht einfach als Fortschreibung der Vergangenheit sehen dürfe. Selbst wenn Gesellschaft und Identitäten der Nordkaukasier seit 1800 grundlegende Wandlungen durchlaufen haben, weshalb Historie oft mehr Vehikel denn Ursache ist, sehen sich doch viele bis heute innerhalb entsprechender Traditionslinien. Der 2006 getötete Terrorist Šamil Basaev war gewiss kein Wiedergänger seines Namensvetters Imam Šamil, aber trotzdem bleibt unstrittig, dass Separatismus, Nationalismus oder Islamismus im Nordkaukasus mit Entwicklungen (bzw. ihrer Unterdrückung!) zusammenhängen, deren Anfänge im Zarenreich oder in der Sowjetära liegen.

Insgesamt bestätigt die Monographie manches, was sich in Detailstudien oder allgemeinen Überblickswerken der jüngsten Zeit bereits abzeichnete, viele ihrer Ergebnisse gehen jedoch deutlich über den bisherigen Forschungsstand hinaus. Nennen könnte man u. v. a. die Neubewertung der politischen Rolle des Scheichs Ali Mitaev (1891–1925) in Bürgerkrieg und frühem Sowjetstaat oder den kabardinischen Baksan-Aufstand (1928) als Vorspiel zur Tragödie der Deportationen. Ihrem Anspruch, das Wechselspiel von Herrschaft, Anpassung und Widerstand zu beleuchten, wird die Schrift jedenfalls vollauf gerecht und kann – unbesehen der genannten Vorbehalte – als Standardwerk zur Geschichte des Nordkaukasus empfohlen werden, wozu auch die sorgfältige Bebilderung und reichhaltiges Kartenmaterial beitragen.

Clemens P. Sidorko, Schopfheim

Zitierweise: Clemens P. Sidorko über: Jeronim Perović: Der Nordkaukasus unter russischer Herrschaft. Geschichte einer Vielvölkerregion zwischen Rebellion und Anpassung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2015. 544 S., 31 Abb., 13 Ktn. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 49. ISBN: 978-3-412-22482-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Sidorko_Perovic_Der_Nordkaukasus_unter_russischer_Herrschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

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