Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 488-489

Verfasst von: Desanka Schwara

 

Karl Kaser: Andere Blicke. Religion und visuelle Kulturen auf dem Balkan und im Nahen Osten. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2013. 359 S., 81 Abb. = Zur Kunde Südosteuropas, II/41. ISBN: 978-3-205-78952-9.

Karl Kaser, o. Univ.-Professor für Südosteuropäische Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Graz, hatte bereits 2011 in Balkan und Naher Osten: Einführung in eine gemeinsame Geschichte zwei Räume, die in der traditionellen Historiographie getrennt untersucht werden, zu einer gemeinsamen Grundlage verstrebt. Dieser räumliche Ansatz hat es ermöglicht, Themenfelder wie Migration, Politik oder Wirtschaft sowie auch Fragestellungen der historischen Anthropologie, die sich mit Einstellungen, Bewusstsein, Beziehungen und Kommunikationsstrategien befassen, angemessen zu bearbeiten.

In Andere Blicke konzentriert sich Kaser auf das Thema Religion, das den Nahen Osten in besonderer Weise nicht nur mit dem Balkan, sondern mit der ganzen Welt verbindet. Er nähert sich den drei hier entstandenen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam im Kontext visueller Kulturen, aus denen heraus er ihre unterschiedlichen Stränge und Entwicklungen erklärt.

Visuelle Kulturen haben seit den 1990er Jahren mit dem pictorial turn, einer bildlichen bzw. ikonischen Wende, die Bilder in die Analyse mit einbezieht (Mitchell, Boehm, Roeck, Paul u.a.), in den Geisteswissenschaften an Bedeutung gewonnen. Kaser ist bestrebt, diese verschiedenen Theorien um den Blickwinkel auf den Balkan und den Nahen Osten zu erweitern. Der vorliegende Band geht allerdings weit über das hinaus, was der Titel erwarten lässt: Es ist einerseits eine umfassende und tiefgreifende Geschichte visueller Kulturen und Religionen generell, andererseits auch eine der drei monotheistischen Religionen, die das kulturelle Umfeld, aus dem sie erwachsen sind, beleuchtet und in seinem historischen Kontext entfaltet. Kaser gelingt es, die prägende Kraft jener visuellen Kulturen, die das Fundament des Glaubens an einen allmächtigen wie allwissenden Gott bildeten, schlüssig zu demonstrieren und zu begründen, weshalb dieser unsichtbar sein musste. Ein weiterer interessanter Aspekt dieser philosophisch-historischen Studie ist wiederum die entgegenlaufende Entwicklung im christlichen monotheistischen System, das im Gegensatz zu Judentum und Islam Wege suchte und fand, den Menschen abbilden zu dürfen. Dieser Weg zur visuellen Präsenz Gottes auf Erden und unter den Menschen führte über den Sohn Gottes, seine Mutter und viele Heilige, die insbesondere in der Ostkirche durch die Ikonenmalerei geehrt und von den Gläubigen verehrt wurden. Karl Kasers historische Reise durch die Jahrhunderte endet bei der „bilderfreundlichen Ostkirche“ (S. 107) allerdings nicht, sondern führt weiter in das Zeitalter der Fotografie und zur Herausbildung visueller Kulturen, wie sie schon die Antike gekannt hatte – eine Tradition, von den drei Religionen des Wortes unterbrochen, wenngleich die Illustrationen in der semisäkularen Zeit der Moderne unter anderen Vorzeichen bzw. als Träger anderer Inhalte erblühten. Diente ursprünglich das vom Menschen erschaffene Ebenbild seiner selbst als Bindeglied zwischen dieser Welt und jener, die nach seinem Tode seiner harrte und längst zur Heimat seiner Ahnen geworden war, so diente die moderne visuelle Kunst eher weltlichen Zwecken. Eine konzeptionelle Trennung von Urbild und Abbild, von profaner und sakraler Kunst (živopis vs. ikonopis), ermöglichte auch bildablehnenden Religionen eine positive Rezeption der Fotografie (S. 154). Selbst im Islam sei die Fotografie zulässig, so der Autor, da sie bereits Vorhandenes abbilde und nicht Neues schaffe. Daher handle es sich um keine Nachahmung der Schaffenskraft Gottes oder des Schöpfungsaktes. „Die Fotografie verleiht Dingen keine Seele“, vielmehr bestärke sie die Macht Gottes als Schöpfer und wetteifere nicht mit ihm. Dennoch überwog mancherorts selbst gegenüber der Fotografie Skepsis (S. 136).

In diese große Geschichte visueller Kulturen und ihrer Ausprägungen bettet Kaser die regionalspezifischen Entwicklungen auf dem Balkan und im Nahen Osten ein. Bestechend ist diese umfassende Studie nicht zuletzt durch ihre zeitliche Dimension. Sie gibt Einblick in die Denkstrukturen und deren religiösen Hintergrund von der Antike bis in unsere Tage, macht eine kulturell bedingte Bilderskepsis verständlich und zeigt gleichzeitig die verschiedenen religiösen Strömungen innerhalb des Judentums, Christentums und Islams. Es wird auch klar, wie ein eingehendes Studium moderner Medien zum Beispiel die Charedim die immensen Gefahren von TV und Internet schon relativ früh erkennen ließ, sie aber ebenso rasch erfassten, wie Vorzüge des Webs ihrer eigenen religiösen Überzeugung dienlich sein konnten. So ermöglicht das Internet – idealerweise koscher gemacht, d.h. aller Gefahren entkleidet – die Frau vor physischer Interaktion mit der Umwelt zu schützen und sie derweil mit dieser virtuell zu verbinden (S. 301 ff.). So eröffnet sich dem Publikum gleichsam jene Welt, die Menschen Kulturschätze zerstören lässt und ermöglicht ein Verstehen der TV- und Internet-Zensur, die in den westlichen Medien in der Regel als politische Zensur interpretiert wird, wenngleich sich die immensen Gefahren des unbeschränkten Zugriffs auch hier erschließen.

Kasers Stärke ist sein historisch-philosophischer Blick, allein von historischem Interesse geleitet und jeglicher Parteilichkeit bar, mit dem er kulturell-visuelle Entwicklungen in ihrem historischen Kontext schlüssig zu erklären versteht. Sein Erklärungsmodell umfasst alle Bereiche menschlicher Existenz (S. 205) und demonstriert sogar die besondere Stellung von Graffiti (S. 264) und Werbung (S. 271) unserer Tage; eine faszinierende Studie, die visuelle Umbrüche zeigt wie deutet (S. 259). Karl Kaser fragt danach, weshalb sich unterschiedliche visuelle Traditionen einstellen und worin sie sich unterscheiden, wie auch nach relevanten Blickpositionen, die von Religion, Geschlecht oder Altersgruppe bestimmt sind (S. 308). Eine zentrale These lautet, dass die Fotografie das Tor zur visuellen Kultur des Westens öffnete. Anfänglich von Judentum, Islam und Ostkirche abgelehnt, trug sie dennoch zu weltlicheren Blickweisen bei.

Das vorliegende Werk ist ein wichtiger Beitrag zur jener Richtung der Historiographie, die bestrebt ist, eine künstliche Begrenzung der Geschichtsschreibung zu überwinden, ein Paradigmenwechsel, ohne den diese fesselnden Ergebnisse kaum möglich gewesen wären. Zahlreiche Abbildungen dienen als Anschauungsmaterial; ein Literatur- und Quel­len­verzeichnis sowie ein Index vervollständigen den Band.

Desanka Schwara, Basel/Ljubljana

Zitierweise: Desanka Schwara über: Karl Kaser: Andere Blicke. Religion und visuelle Kulturen auf dem Balkan und im Nahen Osten. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2013. 359 S., 81 Abb. = Zur Kunde Südosteuropas, II/41. ISBN: 978-3-205-78952-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schwara_Kaser_Andere_Blicke.html (Datum des Seitenbesuchs)

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