Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 286-287

Verfasst von: Desanka Schwara

 

Egidio Ivetic: Jugoslavia sognata. Lo jugoslavismo delle origini. Milano: Angeli, 2012. 230 S. = Studi e ricerche storiche. ISBN: 978-88-204-0650-9.

Im „Traum von Jugoslawien“ bzw. im „erträumten Jugoslawien“ geht Egidio Ivetic, Professor für Geschichte Osteuropas an der Universität von Padua, der Herkunft der pan­jugoslawischen Idee nach. Anders als im Sammelband von Dejan Djokić, der sich der Jugoslawienidee von 1918 bis 1992 als einem fließenden Konzept widmet, zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich interpretiert (Yugoslavism. Histories of a Failed Idea, 1918–1992. Ed. by Dejan Djokić. London 2003), folgt Ivetic, die Diskussionen umsnation-building“ des 19. Jahrhunderts aufgreifend, den ideologischen Spuren eines gemeinsamen Staates der Südslaven bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück. Er positioniert die Visionen der Kroaten, Slowenen und Serben in verschiedenen Entwürfen eines potentiellen gemeinsamen Staates, wobei er auch die jeweiligen Gegenpole mit ihren Argumenten in der alljugoslawischen Frage ansiedelt. Diese Untersuchung des Jugoslawentums (jugoslavenstvo) fußt auf gedruckten Quellen aus den Jahren 1835–1914.

Der Autor schlägt eine neue Interpretation in Bezug auf den Ursprung der jugoslawischen Idee vor, indem er die gesamte Periode von 1830 bis 1914 als Entstehungsphase versteht. In diesen Jahrzehnten entwickelten sich verschiedene Jugoslawien-Vorstellungen, von einem slawischen Süden innerhalb eines Bundesstaates der Habsburger bis zur Vision, dass ein geeinter, unabhängiger südslawischer Staat möglich sei. Bei der Jugoslawien-Idee handelte es sich um ein politisches Projekt, das Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst von kroatischen Eliten des Habsburgerreichs konzipiert wurde (S. 7). In diesem Traum gingen verschiedene Vertreter aus Klerus und Kultur davon aus, dass Kroaten, Serben und Slowenen eine gemeinsame Kultur hätten, auf der ein gemeinsamer Staat, entweder unter der Schirmherrschaft der Habsburger oder gar völlig unabhängig, fußen könnte (S. 8, 10, 15, 174–175). Diese Hypothesen haben die Ambivalenzen und Gegensätzlichkeiten im Konglomerat der jugoslawischen Idee genährt und mündeten schließlich in die jugoslawischen Staaten des 20. Jahrhunderts.

Einer der Väter des jugoslawischen Gedankens war Josip Juraj Strossmayer, katholischer Theologe und einflussreicher kroatischer Politiker. Auf einer vagen Erinnerung an eine gemeinsame illyrische Herkunft der slawischen Völker aufbauend, setzte er sich für eine Aufwertung ihrer Sprachen und Kulturen innerhalb der österreich-ungarischen Monarchie ein. Um diesen Zusammenschluss auch kulturell abzusichern, sprach er sich für eine Annäherung der katholischen und der orthodoxen Kirche aus und schlug sogar eine einheitliche slawische Liturgie für Südosteuropa vor; selbst eine Verbindung mit der Russisch-Orthodoxen Kirche konnte er sich vorstellen. Die Ideologie des Illyrismus – einer kulturellen, ethnischen und politischen Einheit der Südslawen – verbreiteten junge kroatische, später auch slowenische und serbische Intellektuelle schon seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts.

Neben allen Regionen, die später tatsächlich die Teilrepubliken Jugoslawiens bilden sollten, war in der Grundidee dieser ersten panjugoslawischen Konzepte aus kroatischer Feder selbstredend auch der Einschluss Bulgariens vorgesehen, während nichtslawische Völker der Region nicht ausdrücklich bedacht und in der Regel einer der slawischen Bevölkerungsgruppen zugeordnet wurden. Die muslimische Bevölkerung Bosniens zum Beispiel wurde in ihrer Besonderheit erst 1969 – im Zuge der 68er-Unruhen – als eigene Nation anerkannt (S. 8, 12–13).

Andere Verfechter südslawischer Unabhängigkeitsbestrebungen waren Miroslav Krleža, Franjo Rački und Nikša Stančić (S. 12), die in späteren Lebensjahren nicht selten für mehr Autonomie und politische Dezentralisierung, kulturelle Eigenständigkeit, oder sogar für einen unabhängigen kroatischen Staat eintraten.

Den Beginn des Ersten Weltkriegs siedelt Ivetic in diesen verschiedenen Gedankengebilden um ein zu gründendes Jugoslawien an – bzw. um die Verhinderung eines solchen Staates. Folglich interpretiert er auch das Attentat von Sarajevo anders als in der Mainstream-Historiographie üblich. Er ordnet die jungen Attentäter nicht einer serbisch-nationalen Bewegung zu (was sich eigentlich schon aus dem Namen der Bewegung, der sie angehörten, erschließt: Mlada Bosna, „Junges Bosnien“, und nicht „Großserbien“). Ivetic geht davon aus, dass Gavrilo Princip in Gedanken an diesen noch zu gründenden gemeinsamen südslawischen Staat jene Schüsse im Juni 1914 abfeuerte, die den willkommenen Anlass für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gaben (S. 9, 172).

Die Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens waren von der Suche nach einer nationalen‘ Vergangenheit der einzelnen Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet, jenseits aller jugoslawischen Gemeinsamkeiten – eine Periode, in der eine Art Anti-Mythos aus der Geschichte Jugoslawiens rankte. Dennoch bleibt das ursprüngliche Jugoslawentum, so die These dieses Buches, ein wesentlicher Teil der Politik- und Kulturgeschichte all jener, denen die Erfahrung der geschichtlichen Bedingtheiten der jugoslawischen Staaten gemeinsames Erbe ist.

Ivetic betont, dass diese Idee, die Südslawen zu vereinen, durchaus dem Geist der Zeit entsprang, einer Periode, in der verschiedene Bevölkerungsgruppen gleicher oder ähnlicher Sprach- und Kulturgrundlage nach Möglichkeiten eines nationalen Zusammen­schlusses suchten. Während der Entstehungsphase dieses Traums von Jugoslawien wurden einige der Schöpfer dieser Vision Zeitzeugen der Konstituierung neuer Staaten, so zum Beispiel ab 1861 des Risorgimento in Italien oder 1871 der Deutschen Reichsgründung. Daher sollte die Idee eines „Südslawien“ nicht bloß als gescheiterter Versuch abgetan werden, vielmehr sei sie Teil dessen, was wir als ideologisches Erbe Europas betrachten. In ihr scheinen alle Problematiken auf, Kontraste und Widersprüche, integrative Ideen und Ideologien, die auch in die gegenwärtigen wie künftigen Fragen eines gemeinsamen Europas einfließen (S. 177).

Die vorliegende Studie dürfte für alle interessant sein, die sich mit der politischen Entstehungsgeschichte Südosteuropas beschäftigen, darüber hinaus aber auch für all jene, die bestrebt sind, die fließenden Grenzen zwischen Kulturen, Sprachen, Mythen und politischen Interessen in Europa besser zu verstehen.

Desanka Schwara, Basel/Ljubljana

Zitierweise: Desanka Schwara über: Egidio Ivetic: Jugoslavia sognata. Lo jugoslavismo delle origini. Milano: Angeli, 2012. 230 S. = Studi e ricerche storiche. ISBN: 978-88-204-0650-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schwara_Ivetic_Jugoslavia_sognata.html (Datum des Seitenbesuchs)

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