Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 290-292

Verfasst von: Desanka Schwara

 

Marc Halder: Der Titokult. Charismatische Herrschaft im sozialistischen Jugoslawien. München: Oldenbourg, 2013. 367 S., 15 Abb., Tab. = Südosteuropäische Arbeiten, 149. ISBN: 978-3-486-72289-5.

Josip Broz Tito war eine charismatische Persönlichkeit, die die Geschicke Jugoslawiens und teilweise der Welt über Jahrzehnte maßgeblich mitgestaltet hat. Der Bücher über ihn und das sozialistische Jugoslawien der Nachkriegszeit gibt es viele. Die meisten lassen sich der Kategorie der mythosbildenden Werke der sozialistischen Ära und jener der überkritischen, Sozialismus, Titos Person und Wirken ablehnenden der post-sozialistischen Zeit zuordnen.

Marc Halder bricht mit seinem Buch aus dieser Tradition aus, indem er sich keinem der beiden vorherrschenden Stränge zuordnen lässt, sondern sich denkbar sachlich mit den verschiedenen Phasen der Herrschaft Josip Broz Titos und des Kults um seine Person befasst. Souverän entwickelt er seine Thesen im Rahmen sozialwissenschaftlicher Literatur, die sich mit der Charisma-Theorie Max Webers und ihrer Diskussion im soziologischen Zusammenhang beschäftigt. Auch kulturwissenschaftlich ausgerichtete Werke über Mythen, Ritualtheorien und das Phänomen der „politischen Religionen“ sind Teil der Analyse. Die Studie, die sich auf ein umfassendes Quellenkorpus stützt, ist durch die zeitlich-politischen Phasen der Herrschaft Titos und die Frage nach der Wirkung der „charismatischen Kommunikation“ in Medien und Öffentlichkeit, Schulbüchern und Lesefibeln, Liedern und Gedichten, in Spielfilmen, Briefen und Patenschaften strukturiert, kontrastiert mit den performativ-rituellen Dimensionen des Titokults bei großen öffentlichen Veranstaltungen wie den 1.-Mai-Feierlichkeiten, den Festlichkeiten zu Titos Geburtstag am 25. Mai (zum „Tag der Jugend“ umgeformt), Sportveranstaltungen, Jugendaustausch: Es waren Fröhlichkeit, Ausgelassenheit und Gemeinschaft stiftende Anlässe.

Halder zeichnet zunächst den Weg des Bauernsohns einer slowenischen Mutter und eines kroatischen Vaters zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei nach, zeigt seinen Aufstieg zum Partisanenkommandanten und Helden während des Zweiten Weltkriegs und setzt zeitlich die erste Phase der offenen Bewunderung für Titos charismatische Persönlichkeit schon während des Krieges an. Ab 1944 habe die Propaganda der Partei das Charisma Titos aktiv verbreitet. Die politischen Abteilungen der Partisanenstreitkräfte erhielten Anweisungen, den Oberkommandierenden gezielt zu popularisieren und insbesondere die emotionale Bindung zwischen der Jugend und dem „Genossen Tito“ zu propagieren. Die Partisanenpresse begann, die Beziehung zwischen Tito und seiner Gefolgschaft in der „emotionalen Kategorie der Liebe“ auszudrücken, womit die Charismatisierung seiner Person eine neue Dimension erreichte. Die Überhöhung Titos demonstrierte Halder exemplarisch an einigen Versen. Der montenegrinische Dichter Radovan Zogović – nach Kriegsende Mitglied der Regierung, aber 1948 als angeblicher Stalinist in Ungnade gefallen – vereinte Tito und den jungen jugoslawischen Staat mit den Worten „Wer ist Tito? Tito – das sind wir alle! Auch die Armee, auch das Land, auch die Berge []“ und der Kroate Zlatan Sremec – nach der Staatsgründung bis 1953 Vorsitzender des kroatischen Parlaments – erweiterte diese Konstruktion um einige Abstrakta, für die gerade die Jugend so empfänglich ist: „Wer ist TITO? TITO ist das VOLK. TITO ist das GLÜCK. TITO ist die HOFFNUNG. TITO ist der GLAUBE an sich SELBST. TITO ist die LIEBE. TITO IST UNSERE ZUKUNFT.“ (S. 56–57) Die „mythologisierte Personalisierung“, die Tito zum universellen Symbol positiver Eigenschaften stilisierte, wurde zu einem der Pfeiler des Personenkults.

Im Zeichen dieser positiven Eigenschaften, die „Südslawien“ in eine glückliche Zukunft führen sollten, wuchs trotz immenser Verluste auch die Partisanenbewegung stetig an und zählte 1944 bereits um die 350.000 Männer, Frauen und Jugendliche. Der „Volksbefreiungsausschuss“ organisierte die lokale Verwaltung und Wirtschaft, die Versorgung der Partisanen-Einheiten und der Zivilbevölkerung, wie auch die Alphabetisierung der Bevölkerung. Hier zeigt Halder besonders anschaulich, wie in den Wissenskorpus, der den Menschen zugänglich gemacht wurde, gleichsam eine sie formende Emotionalität eingeflochten wurde: Eine der Lesefibeln aus dem Jahre 1944 begann nicht mit dem ABC, sondern bezeichnenderweise mit den Buchstaben T, I, O (S. 57).

Im Frühling 1945 kontrollierten die Partisanen weite Teile des jugoslawischen Territoriums. Ihre Armee war in wenigen Monaten auf mehr als das Doppelte angewachsen, obwohl sie ca. 300.000 Gefallene zu beklagen hatte. Der Sieg über die Hauptgegner – die deutsche Wehrmacht und ihre Kollaborateure – und die Übernahme der Staatsgewalt waren wichtige Schritte auf dem Erfolgsmarsch Titos; weitere Pfeiler bildeten der Bruch mit Stalin, die „Blockfreiheit“ und die Neuerungen im Zuge der 1968er Unruhen. Sie nährten den Kult um Titos Person, der im Nachkriegsjugoslawien institutionalisiert und in den Alltag integriert wurde (S. 60–61), während sich Tito selbst bescheiden gab bzw. auf die vielen anderen verwies, die sich der Liebe und Achtung der Menschen wohlverdient ebenfalls erfreuten (S. 65). Nichtsdestotrotz fungierte er bereitwillig als Galionsfigur der „Brüderlichkeit und Einheit“, des Credos, das im jungen sozialistischen Staat als Friedens- und Wohlstandsgarant galt.

Auch die Trauer und die Feierlichkeiten, die 1980 Titos Tod begleiteten, arbeitet Halder akribisch auf (S. 227–228); er analysiert die schwindende Bedeutung Titos in den achtziger Jahren, obwohl die Partei den Mythos weiterhin pflegte (S. 243–244), widmet sich der „post-charismatischen Ära“, in der sich Menschen durch Ablehnung oder Nostalgie (S. 275–276) wieder Gruppen zuordneten, die der sozialistische Staat über Jahrzehnte zu nivellieren versucht hatte, und schließt seine Studie mit der Frage nach der Identität, Integration und Legitimation durch Kult (S. 297). Eine markante Zäsur setzt Halder richtigerweise am 4. Mai 1990, dem zehnten Todestag, dem „Endpunkt des staatlich geförderten Personenkultes“, der in Serbien von Demonstrationen und einer kritischen Berichterstattung begleitet wurde (S. 314).

Der analytische Ansatz der „politischen Religion“ erweist sich, so Halder, in Bezug auf Jugoslawien als wenig ergiebig, da Analogien zwischen den Praktiken politischer Religionen totalitärer Regime und der Gestaltung des Titokults lediglich auf ästhetischer Ebene bestünden; bestenfalls ließe er sich als „säkulares Ersatzsystem“ beschreiben. Jedenfalls bleibe der Titokult Teil der „post-jugoslawischen Erinnerungskulturen“, wobei der Autor ausdrücklich offen lässt, ob die „Nostalgie als potentieller Werteträger“ zu einer erneuten Charismatisierung der durch Tito vertretenen politischen Ideen führen könnte (S. 314–315).

Interessant wäre an dieser Stelle ein Blick über die Ränder Jugoslawiens hinweg mit der Frage, wie sich Titos Ansehen weltweit erklären lässt: mit dem „Titokult“? Die lange und ungewöhnliche Liste der Menschen aus Politik und Kultur, die Tito die letzte Ehre erwiesen haben – Margaret Thatcher und Jassir Arafat, Leonid Breschnew, Helmut Schmidt und Saddam Hussein, vier Könige, fünf Prinzen, sechs Parlamentspräsidenten, 31 Staatspräsidenten, 22 Premierminister und 47 Außenminister, Gäste aus 127 Staaten – stellt diese Frage bei der hier behandelten Thematik unweigerlich in den Raum.

Auch ein Blick über die totalitären Herrschaften hinaus in Länder der so genannten „freien Welt“ hätte möglicherweise zu innovativen Erklärungsmodellen geführt, die der Autor im Ansatz durchaus entfaltet; aber durch die Begrenzung auf Jugoslawien engt er seine Thesen ein, die womöglich breiter anwendbar wären bzw. über totalitäre Regierungsformen hinaus Geltung hätten. Hier sei vor allem auf den aktuellen Personenkult um die Königskinder verschiedener Dynastien Europas verwiesen oder die inszenierte Hysterie um Musik- und Filmikonen.

Marc Halder ist jedenfalls eine durchweg gut strukturierte und plausible Studie gelungen, die Thesen wie Schlüsse des Autors mit Originalzitaten unterstreicht und einen einwandfreien Fußnotenapparat liefert. Quellen- und Literaturverzeichnis, Personen-, Sach-, Ortsregister und eine Liste der Staatsbesuche Titos von 1944 bis 1979 erleichtern eine kritische Lektüre. Weshalb auch die Wechselkurse des Dinars zwischen 1946 und 1980 aufgelistet sind, erscheint bei der vorliegenden Themenstellung nicht auf Anhieb verständlich. Gerade auch im Hinblick auf die Popularität Titos über die Grenzen Jugoslawiens hinaus wäre eine Liste der ihn besuchenden Gäste sinnvoll gewesen, wie auch der Gäste anlässlich seiner Beerdigung 1980. Diese Anmerkungen schmälern aber den Wert der Studie keineswegs, die alles in allem sorgfältig und spannend konstruiert ist, und auch analytisch meist zu überzeugen vermag.

Desanka Schwara, Basel/Ljubljana

Zitierweise: Desanka Schwara über: Marc Halder: Der Titokult. Charismatische Herrschaft im sozialistischen Jugoslawien. München: Oldenbourg, 2013. 367 S., 15 Abb., Tab. = Südosteuropäische Arbeiten, 149. ISBN: 978-3-486-72289-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schwara_Halder_Der_Titokult.html (Datum des Seitenbesuchs)

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