Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 2, S. 299-300

Verfasst von: Martin Schulze Wessel, München

 

Victoria Frede: Doubt, Atheism, and the Nineteenth-Century Russian Intelligentsia. Madison, WI: University of Wisconsin Press, 2011. XIII, 300 S., 6 Abb. ISBN: 978-0-299-28444-2.

Die Frage der Existenz von Gott ist stets auch eine politische Frage. In Russland nahm diese Frage eine besondere Intensität an: Aufgrund der engen Verbindung der Autokratie mit der russischen Orthodoxie wurde die Existenz von Gott zu einer Frage der Erlösung des Individuums und des Landes als Ganzem stilisiert. Dies jedenfalls war die Position der kleinen Schicht der Intelligencija, deren radikaler Flügel sich in der Verneinung von Gott konstituierte. Dies ist die zentrale These des Buches von Victoria Frede, die mit ihrer Studie nicht nur den hohen Stellenwert von Zweifel und Atheismus für die Selbstverständigung von radikalen Intellektuellen belegt, sondern auch zeigt, wie stark deren Diskurs von religiösen Semantiken geprägt war. Die russischen Atheisten entwickelten kein Gedankensystem, in dem jede Spur der russisch-orthodoxen Kultur vernichtet worden war. Ihren Äußerungen über Zweifel und Atheismus fehlte es an Präzision, aber dies begrenzte keineswegs die Wirkung ihrer Texte. Frede argumentiert in ihrem Buch gegen das aus der sowjetischen Historiographie stammende Erklärungsmuster, demzufolge russischer Atheismus nur als Resultat eines westlichen Ideentransfers, als eines nach Russland übertragenen wissenschaftlichen Materialismus zu verstehen sei. Dagegen macht Frede in ihrer Interpretation die indigenen Ursachen und Dynamiken sichtbar. Deutlich wird dabei, in welchem hohen Maße sich die politischen Loyalitätsforderungen im imperialen Russland auf den Glauben der Untertanen bezogen. Unter Alexander I. wurde eine offizielle Frömmigkeit mit weitreichenden politischen Implikationen begründet. Nikolaj I. führte Verhörmethoden ein, welche die Frage nach der Teilnahme an den Sakramenten an den Anfang stellte. Victoria Frede erklärt die Entstehung einer revolutionären Intelligencija in diesen Zusammenhängen. Dadurch wird eine Kontinuität erkennbar, die vom Glaubenszweifel der zwanziger Jahre bis zum ausformulierten Atheismus der sechziger Jahre reicht.

Für intellektuelle Zirkel wie die Weisheitsfreunde (ljubomudry) wurde Zweifel zu einer wichtigen Kategorie. Dieser von idealistischer Philosophie geleitete Zirkel, der oft in Gegensatz zu den entschieden politischen Gruppierungen der Dekabristen begriffen wird, ist für Frede der Ausgangspunkt eines neuen Verhältnisses zum Glauben unter den gebildeten Russen. Die romantische Idee der Veränderlichkeit und Entwicklung des Göttlichen hatte in Russland auf konservativer Seite entschiedene Gegner, die von Frede in ihre Betrachtung einbezogen werden (S. 40). Vor dem Hintergrund ihrer dogmatischen Vorstellungen von den „unveränderlichen Gesetzen der Religion“ (Ivan Davidov), wird die Sprengkraft der Kategorie des Zweifels deutlich, die, wie Frede zeigt, in den Schriften der Weisheitsfreunde seit 1825 zunehmend einen zentralen Platz erhielt.

Frede begreift den Zweifel als ein intellektuelles Erbe, das Herzen und Ogarev von den Weisheitsfreunden übernahmen. Das Leben dem Streben nach Wahrheit zu widmen, bedeutete dem Zweifel einen Platz einzuräumen. Für Herzen und Ogarev konnte dieser Zweifel allerdings nur zu einer Negation des Gottesglaubens führen. Frede macht das Jahr 1849 als wichtige Zäsur in der russischen Geistesgeschichte aus: Erstmals wurde von jungen Intellektuellen wie Michail Petraševskij die Idee propagiert, dass es keinen Gott gebe. In den späten fünfziger und in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts griffen Nikolaj Černyševskij und Nikolaj Dobroljubov dies auf; sie waren die ersten, die die Gottesvorstellung auch in Printmedien negierten. Sie gingen über den Gotteszweifel der zwanziger und dreißiger Jahre weit hinaus, indem sie die Überwindung des Gottesglaubens zur Voraussetzung der Selbstemanzipation der russischen Gesellschaft erklärten. Die Fähigkeit zur Veränderung war an den Glauben an die eigene Fähigkeit zur Veränderung gebunden – dies wurde zum Angelpunkt von Černyševskijs Nachdenken über die Gesellschaft und sich selbst. In diesem Sinne war die bewusste Aufgabe des eigenen Gottesglaubens für den Popensohn ein Akt der Selbstbefreiung, den er für sich und die Gesellschaft zu tun meinte. Die Freiheit von Vorurteilen wurde für Černyševskij und Dobroljubov in den frühen sechziger Jahren zum zentralen Merkmal des „neuen Menschen“. Dessen Konzept war allerdings, wie Frede auch mit Bezug auf Irina Paperno betont, keineswegs frei von christlichen Semantiken. Bemerkenswert ist die Feststellung Fredes, dass sich die revolutionäre Propaganda auf dem Land und speziell in den Randgebieten des Imperiums religiöser Konzepte bediente, um die ländliche, speziell die altgläubige Bevölkerung zu erreichen. Die Verbreitung katholischer Kultur unter Ukrainern und Belorussen wurde von revolutionären Intellektuellen durchaus als Bedrohung verstanden, der durch orthodoxe Mission zu begegnen sei (S. 163). Atheistische Programmatik verbunden mit Symboliken christlicher Herkunft macht Frede als Kennzeichen weiterer Denker und sozialer Bewegungen insbesondere in der Folge der Bauernbefreiung von 1861 aus. Mit Dmitirj Pisarev, dem Frede im letzten Kapitel eine vertiefte Interpretation widmet, kommt ein neues Element ins Spiel: die „Verwissenschaftlichung“ der Kritik an Religiosität, die Pisarev psychologisch als „krankhaften Zustand“ deutet (S. 191).

Frede greift mit ihrem Buch ein großes Thema der russischen Geschichte auf, zu dem es scheinbar wenig Neues zu sagen gibt. In der Tat ist es – insbesondere im Hinblick auf die sechziger Jahre – unvermeidlich, dass Victoria Frede sich auf eine Forschungstradition stützt. Doch eröffnet das Buch in vielfacher Hinsicht neue Einsichten. Der neue konzeptionelle Beitrag liegt in der genauen Analyse des Zusammenhangs des philosophischen Konzepts des „Zweifels“ mit der um 1848 beginnenden Atheismusgeschichte. Frede erklärt in einem sehr lebendig geschriebenen Buch, wie Glaubenszweifel und Gottesnegation zu zentralen Merkmalen im Selbstverständnis der russischen Intelligencija wurden, welche doch in ihren Semantiken und Symboliken bis in die Revolution von 1917 hinein und darüber hinaus christlichen Symboliken verhaftet blieb.

Martin Schulze Wessel, München

Zitierweise: Martin Schulze Wessel, München über: Victoria Frede: Doubt, Atheism, and the Nineteenth-Century Russian Intelligentsia. Madison, WI: University of Wisconsin Press, 2011. XIII, 300 S., 6 Abb. ISBN: 978-0-299-28444-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schulze-Wessel_Frede_Doubt_Atheism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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