Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 473‒475

Verfasst von: Gottfried Schramm

 

Drevnejšie gosudarstva Vostočnoj Evropy. 2009 god: Transkontinental’nye i lokal’nye puti kak sociokul’turnyj fenomen [Transkontinentale und lokale Wege als soziokulturelles Phänomen]. Otv. red. toma T. N. Džakson. Moskva: Indrik, 2010. 494 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-5-91674-081-3.

Klotzig wirkt dieser Sammelband durch die Zahl von neunundzwanzig Beiträgen und ein Redaktionskollegium aus sieben Gelehrten, von denen die meisten zugleich als Beiträger wiederbegegnen. Der Titel wirkt ebenso steif wie der Name des Moskauer Akademieprojektes, aus dem er hervorgegangen ist: „Geopolitische Faktoren in der historischen Entwicklung des altrussischen Staates“. Der Gründer des Moskauer Akademieinstituts, in dem das genannte Projekt verwurzelt ist, war Vladimir Pašuto, der bis zu seinem Tode 1983 auch dann noch ein lautstarker Bekämpfer des Normannismus geblieben war, als diese von Stalin kanonisierte Lehre schon bröckelte. Ein von Pašuto mitverfochtenes Argument gegen die Gründung der Rus’ durch normannische Fernhändler und Eroberer war, dass der Handel in der Rus’ nur zur Befriedigung der Bedürfnisse einer sozialen Oberschicht betrieben wurde und die tieferen Strukturen des sozialen Lebens und die Wirtschaftsformen der Massen unberührt ließ. Genau dieses Argument haben die Herausgeber sich in ihrem Vorwort auf S. 9 zu eigen gemacht, obwohl es offensichtlich falsch ist. Die Kernleistung der Waräger war ein Tributsystem, in dem – gewiss mit einheimischen Fürsten als Mittelinstanzen – eine jährliche Abgabe in Pelzwerk von jedem Hof eingetrieben wurde. Auch der „kleine Mann“ konnte nunmehr die wertvollen Handelsgüter Pelze, Honig und Wachs in den Fernhandel einfüttern, wobei sicherlich Preise erzielt wurden, die im heimischen Wirtschaftshorizont kaum zu erreichen waren.

In demselben Zeitraum, in dem das genannte Moskauer Akademieprojekt Gestalt annahm, habe ich selbst unter dem Titel „Altrußlands Anfang“ in Fortführung meiner vorausgegangenen Arbeiten eine Synthese vorgelegt, die in der Nachfolge von Ključevskij zeigt, dass die Rus’ des 9. und 10. Jahrhunderts ein ausgesprochener Handelsstaat war, in dem – einzigartig in Europa – die alte Gliederung in Stammesterritorien abgelöst wurde durch Handels- und Herrschaftsstützpunkte samt ihrem Hinterland. Die von dem Historiker Boris Grekov eingeleitete und von Stalin kanonisierte Umorientierung behauptete das Gegenteil: Der Feudalismus sei in Russland, wie anderswo in Europa, aus der Abschöpfung der Arbeitskraft fronender Bauern durch eine ortsgebundene Oberschicht entstanden. Es scheint mir eine Kernaufgabe der historischen Forschung in Russland seit der politischen Wende zu sein, dieses gewaltsam aufgepfropfte Muster, das auf eine Vordatierung der Zustände im Moskauer Russland beruht, endlich durch ein zutreffenderes, aus den Quellen erarbeitetes Schema abzulösen.

Der Rezensent hat bei fleißigem Blättern nicht feststellen können, dass die vielen Beiträge sich dieser Kernfrage stellen. Das war wohl auch kaum zu erwarten, weil die Herausgeber offenbar nicht vorgegeben hatten, auf welche Leitfragen die Beiträger antworten sollten. Danach war es nur folgerichtig, dass auch am Schluss des Bandes nicht versucht wurde, zentrale Antworten aus der Fülle der Aufsätze herauszudestillieren. So will mir das rezensierte Werk als klassisches Beispiel jener Sammelbände erscheinen, in denen man vor lauter Bäumen keinen Wald erkennt.

Aufgenommen sind auch ausländische Beiträge, wobei die Herausgeber dem Briten Jonathan Shepard den Ehrenplatz am Anfang eingeräumt haben. Ihm und Simon Franklin ist mit „The Emergence of Rus, 750–1200“ eine gut lesbare Synthese in der normannistischen Spur gelungen, die mittlerweile auch auf Russisch vorliegt. Nicht erkennen kann ich, dass die russischen Beiträge in ihre Spur eingeschwenkt sind. Offenbar unberücksichtigt blieb durchweg mein „Altrußlands Anfang“, das die Arbeit der beiden Briten in ihrem Kernurteil bestätigt und ergänzt, ja, in Quelleninterpretationen abstützt, die in ihrer für eine breite Leserschaft bestimmte Darstellung naturgemäß fehlen.

Wie sind die Beiträge des rezensierten Bandes thematisch gestreut? Am dichtesten vertreten und am stärksten international durch skandinavische und angelsächsische Beiträge mitgetragen sind die Aufsätze, die Russland in das größere Ganze des Verkehrsraumes der Ostsee einordnen. Da am Pašuto-Institut von Anfang an drei auf die skandinavischen Kontakte spezialisierte Mitarbeiter gewirkt haben, was bei dem doch bescheidenen Umfang der einschlägigen zur Verfügung stehenden Quellen leicht als Überaufwand erscheinen kann, ist wenigstens die Nordfront der „geopolitischen Faktoren“ reichlich vertreten. Zu diesen gehörten vom Weißen Meer aus unternommene wikingische Raubzüge im Küstenstreifen, weiter südlich in der Rus’ dagegen ein stabiles Tributsystem, dessen befestigte Stützpunkte nicht zuletzt Schutz gegen „Räuberwikinger“ bieten sollten.

Die südlichen Verkehrsschienen kommen dagegen zu kurz. Der zuständige Fachmann im Pašuto-Institut, Aleksandr N. Nazarenko, hat sein Pulver zu der Frage bereits anderswo verschossen. Schuldig blieb er bislang die Erörterung, wie sich der südliche Weg von Kiev zu den Chazaren fortsetzte, obwohl von dort an, anders als in den Westabschnitten, mit einem Flussverkehr zu rechnen ist, der bisher viel zu wenig diskutiert wurde. Nazarenko habe ich in diesen Jahrbüchern (s. Bd. 55 (2007) S. 107) kritisch unter die Lupe genommen. Die Lücke, die dieser Autor im besprochenen Sammelband gelassen hat, hätten einige deutsche Wissenschaftler füllen können, die aber offenbar nicht zu Beiträgen aufgefordert worden sind.

Auch die Art, wie sich der Verkehr über weite Entfernungen abgespielt haben dürfte, ist nirgendwo in gründlichen Augenschein genommen worden. So hat man, wie mir scheint, auch jetzt keinen Anstoß daran genommen, dass laut Konstantin Porphyrogennetos in der Mitte des 10. Jahrhunderts zumindest bis Mesembria an der bulgarischen Küste der Flussverkehr auf Einbäumen abgewickelt wurde, was den Normannen, Meistern des Bootsbaues, nicht zugetraut werden darf. Es ist an der Zeit, die Nutzung von Fernwegen einmal nachzuspielen. Wie lange war man unterwegs? Welche Schwierigkeiten galt es zu überwinden? Weitgehend ausgeblendet bleibt auch der Wolga-Weg und erst recht ein Vergleich zwischen den beiden Nord-Süd-Achsen Dnepr und Wolga.

Der vorliegende Band hat zwar eine Reihe von Einzelaspekten, die hier nicht einzeln Erwähnung finden konnten, durchaus überzeugend erörtert. Aber das Gesamtphänomen des Fernverkehrs und seine Schlüsselrolle für die Grundlegung der Rus’ findet sich durch eine Fülle von Material eher zugeschüttet als geklärt.

Die Herausgeber haben sicher viel Mühe mit diesem Band gehabt, aber die letzte, entscheidende Mühe gescheut: den Band durch Kartenskizzen und Indizes leichter benutzbar zu machen, aber auch in einem klaren, übersichtlichen Fazit zusammenzufassen, um welche Erkenntnisse von grundsätzlicher Wichtigkeit wir bereichert worden sind und wo überholte Ansichten ihre Berichtigung fanden. Wann wird eine erneute Diskussion über die Anfänge der russischen Geschichte endlich beginnen?

Gottfried Schramm, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Gottfried Schramm über: Drevnejšie gosudarstva Vostočnoj Evropy. 2009 god: Transkontinental’nye i lokal’nye puti kak sociokul’turnyj fenomen [Transkontinentale und lokale Wege als soziokulturelles Phänomen]. Otv. red. toma T. N. Džakson. Moskva: Indrik, 2010. 494 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-5-91674-081-3, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Schramm_Drevnejsie_gosudarstva_2009_god.html (Datum des Seitenbesuchs)

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