Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 289-291

Verfasst von: Dittmar Schorkowitz

 

Andrew A. Gentes: Exile, Murder and Madness in Siberia, 1823–61. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2010. XIII, 290 S. ISBN: 978-0-230-27-326-9.

Mit dem zweiten Teil einer geplanten Trilogie über Sibirien als Verbannungsort – der erste Band erschien 2008 unter dem Titel „Exile to Siberia, 1590–1822“ – stößt Andrew Gentes in die zentrale Entwicklungsphase eines Instrumentariums zaristischer Diszi­plinar­macht (gouvernementalité) vor, dem der amerikanische Journalist George Kennan schon im Mai 1888 mit dem Abdruck seiner Reiseeindrücke beim „Century Magazine“ zur traurigen Berühmtheit verholfen hat. Seit dem 16. Jahrhundert verstärkt als Mittel zur Kaltstellung politischer Kontrahenten oder aufständischer Gruppen eingesetzt und seit den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts zunehmend durch Sträflingsarbeit in staatlichen Betrieben (katorga) ergänzt, wurde die Verbannung infolge der Aufstände der Dekabristen (1825) und polnischer Unabhängigkeitskämpfer (1830–1831, 1863–1864) in der behandelten Periode als System von politischer, juristischer, sozialer und wirtschaftlicher Bedeutung erheblich ausgebaut und perfektioniert.

Diese Modernisierung setzte indes mit der Reformierung der Verwaltung Sibiriens unter Generalgouverneur Speranskij ein, der vermittels zweier Satzungen („Ustav o ssyl’­nych“; „Ustav ob ėtapach v sibirskich gubernijach“) und der Einrichtung einer Expedition („Ssyl’naja ėkspedicija“) in Tobol’sk bereits im Juli 1822 die Grundlagen zur Systematisierung gelegt hatte, die man also besser nicht im ersten Band (S. 21), sondern hier diskutiert hätte. Wenig nachvollziehbar ist auch, wieso das Ende des Untersuchungszeitraums sich am „Phantomjahr“ 1861, dem Jahr der sogenannten Bauernbefreiung (Gutsbauern), orientiert und nicht beispielsweise an der Justizreform von 1864, die es den Behörden gestattete, die administrative Verbannung missliebiger Personen nach dem Grundsatz der Verhinderung von Verbrechen qua Verfügung präventiv anzuordnen, was einen rasanten Anstieg der Verbanntenkontingente zur Folge hatte. Selbst 1869 bietet sich als Zäsur an, weil die Regierung in diesem Jahr begann, die Verschickung der katorž­niki aus den zentralen, europäischen Gouvernements nach Sibirien gesetzlich zu untersagen.

Das Verbannungssystem kannte im wesentlichen zwei Kategorien: die Verschickung zur Ansiedlung (na poselenie) oder zur Zwangsarbeit (katorga). Während die erstere der Kolonisation Sibiriens zuarbeitete, implizierte die letztere die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft. Zwangsarbeiter dienten dem Staat u. a. beim Wegebau, meist jedoch der herrschenden Dynastie in den zarischen Minen und Bergwerken. Für die wenigen privaten Unternehmen und Fabriken besaßen sie als zumeist ungelernte Arbeiter nur geringen Wert.

Dieses multifunktionale und facettenreiche System auf den Aspekt von Bestrafung reduzieren und diese nach Durkheim als Sanktion bei Verstößen gegen ein Kollektivbewusstsein in primitiven (segmentären) Gesellschaften bzw. als „morality of the ‚collective conscience‘ at work“ (S. 6) erklären zu wollen, greift zu kurz und wirkt zugleich doppelt anachronistisch in dem Versuch, an der modernen Industriegesellschaft entwickelte Modelle von Zivilgesellschaft auf Verhältnisse Russlands um die Mitte des 19. Jahrhunderts übertragen zu wollen. Eher wird man noch von einer spezifischen Ausformung der Leibeigenschaft oder einer Variante des „internal colonialism“ als Vorläufer des Gulag und Stalinscher Deportationen ausgehen können. Im Ausbau des Systems die Konstituierung einer überwachten und disziplinierten Gesellschaft erkennen zu wollen, scheint trugschlüssig, weil dazu entscheidende Kriterien der Foucaultschen Repressionshypothese fehlen: Abgeschlossenheit, Machtdurchdringung, Kontrolle und Anpassungserwartung. Der Himmel war hoch in Sibirien und der Zar weit. Flucht und Widerstand gegen das System, ja selbst die Formierung einer Gegengesellschaft (oblastniki) ziehen sich wie ein roter Faden durch die Landesgeschichte. Die Modernisierung des Reiches, der Ausbau von Militär und Bürokratie inklusive eines Repressionsapparates und die Propagierung nationalpatriotischer Einstellungen durch den „Gendarmen Europas“, Zar Nikolaus I., hatte – bedingt nicht zuletzt durch den Import westeuropäischer Ordnungsvorstellungen und Praktiken – nicht die „Disziplinierung von Individuen“ (S. 9) zum Ziel, sondern all dies diente der Abwehr von liberalen Ideen und Bewegungen. Das jedenfalls ist Stand der Geschichtsschreibung, mit dem sich der Autor nur wenig auseinandersetzt.

Davon abgesehen, bietet das Buch einen nützlichen Einstieg in verschiedene Problemfelder des Verbannungssystems, etwa den staatlichen Umgang mit sozialen Randgruppen (brodjagi), die Entwicklung des Strafrechts, die rudimentäre Sozialpolitik (Heeresinvalide, Kriegswaisen, Arbeitslose), die Deportation ethnischer bzw. religiöser Minderheiten sowie die Lebenssituation der Verbannten vor Ort. Dazu hat Andrew Gentes ausgiebige Recherchen in den Archiven von Irkutsk, Moskau und St. Petersburg durchgeführt.

Die Darstellung bleibt allerdings auf das Narrativ vom Leidensmartyrium der Verbannten und auf die Absurditäten des Systems fokussiert. Man erfährt wenig über gesetzgebende Verfahren, normbildende Diskurse und Formen sozialen Protestes. Während den politisch Verbannten und Dekabristen breiter Raum (S. 76–128) gewidmet ist, bleibt das Schicksal polnischer Aufständischer unterbelichtet. Wahrscheinlich wird ohne den Einbezug von Arbeiten polnischer Autoren (Wiktoria Śliwowska, Antoni Kuczyński, Julian Glaubicz Sabiński, Barbara Jędrychowska u. a.) so schnell auch kein neues Licht auf diesen Gegenstand fallen. Der nur dürftig strukturierte Text bleibt deskriptiv, ist geprägt durch die Reproduktion archivalischer Belegstellen und überladen mit Daten und Zahlen, die übersichtlicher als Tabellen hätten ausgewiesen werden können. Ein schlüssiges Gesamtbild stellt sich so nur schwer ein.

Dittmar Schorkowitz, Halle/Saale

Zitierweise: Dittmar Schorkowitz über: Andrew A. Gentes: Exile, Murder and Madness in Siberia, 1823–61. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2010. XIII, 290 S. ISBN: 978-0-230-27-326-9, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Schorkowitz_Gentes_Exile_Murder_and_Madness.html (Datum des Seitenbesuchs)

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