Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Stephan Scholz

 

Vejas Gabriel Liulevicius: The German Myth of the East. 1800 to the Present. Oxford, New York: Oxford University Press, 2009. XI, 292 S., 9 Abb., 6 Ktn. ISBN: 978-0-19-954631-2.

Ein deutscher Sämann schreitet in Uniform und Stahlhelm über die Ebene und macht das unter seinen Stiefeln brachliegende Land fruchtbar. In diesem „Erinnerungsbild“ aus dem Jahr 1918, das sich auf dem Schutzumschlag befindet, fokussiert sich, was Liulevicius als den deutschen Ost-Mythos in der Moderne beschreibt. Es ist wohl kein Zufall, dass dieses Bild aus der Zeit der deutschen Besatzung im Ersten Weltkrieg stammt, über die Liulevicius vor einigen Jahren eine wichtige und empirisch gesättigte Forschungsarbeit geschrieben hat. Die darin im Zentrum stehenden Erfahrungen, Erwartungen und Bilder deutscher Besatzungssoldaten im Osten werden nun in einer weiteren historischen Perspektive kontextualisiert. Liulevicius bietet damit erstmals einen Überblick über die deutsche Wahrnehmung Osteuropas von 1800 bis heute.

In neun Kapiteln wird die Entwicklung des deutschen Mythos vom Osten und seiner Bedeutung für die Ausbildung der deutschen nationalen Identität chronologisch nachgezeichnet. Unter „Mythos“ wird dabei „a complex of ideas, a durable discourse of expectations and imagination“ (S. 2) verstanden. Diesem methodischen Ausgangspunkt wird die Durchführung allerdings nur bedingt gerecht. Über weite Strecken wird im Stil klassischer Politikgeschichte Handbuchwissen über die Entwicklung der deutschen Nation im 19. und 20. Jahrhundert und ihrer Beziehungen zu den östlichen Nachbarstaaten bzw. -völkern geliefert. Das mag für Leser, die damit nicht vertraut sind, als Hintergrund vielleicht hilfreich sein, führt aber zu oft weg vom eigentlichen Gegenstand, dem deutschen Mythos vom Osten.

Wie in einer Überblicksdarstellung nicht anders zu erwarten, wird zudem zusammengefasst, was aus zahlreichen Einzelstudien schon lange bekannt und andernorts ausführlicher gezeigt worden ist. Forsters Etablierung des Schlagworts von der „polnischen Wirtschaft“ fehlt ebenso wenig wie Jordans Plädoyer für einen „gesunden Volksegoismus“ in seiner bekannten Polenrede in der Paulskirche oder Freytags antislawischer Roman „Soll und Haben“. Die breite deutsch- und polnischsprachige imagologische Literatur hierzu und zur Geschichte deutscher Ost-Stereotype insgesamt wird allerdings nicht angemessen berücksichtigt. Ähnliches gilt für die Zeit nach 1945, die insgesamt ziemlich blass bleibt.

Dreh- und Angelpunkt der Darstellung ist eindeutig die radikale deutsche Kriegs- und Vernichtungspolitik von 1939 bis 1945 und die ihr zugrundeliegenden Vorstellungen vom Osten Europas. Dabei kann Liulevicius überzeugend zeigen, wie die Grundlage für die deutsche Überlegenheitsphantasie gegenüber den osteuropäischen Völkern auf verschiedene Weise schon durch Aufklärung und Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelegt wurde und wie sich diese Überlegenheitsphantasie dann durch die spezifische Geschichte der deutschen Nations- und Nationalstaatsbildung bis zum Ersten Weltkrieg zu einer kolonialen Haltung radikalisierte. Der Mythos vom „deutschen Kulturträger im Osten“ erhielt im Ersten Weltkrieg und danach weiteren Auftrieb. Der Osten Europas blieb ein Raum, auf den gleichermaßen große Hoffnungen und Ängste projiziert wurden. Die NS-Politik konnte darauf aufbauen, brach aber auch mit der Wunschvorstellung, die vermeintlich unterlegenen Slawen zu kultivieren, zugunsten einer rassistischen Herrschaftspolitik, in der den „Ostvölkern“ nur noch die Rolle von Sklaven zukam.

Einige innovative Ansätze wie der Vergleich des deutschen Ost-Mythos mit dem US-amerikanischen frontier-Mythos werden leider nur angedeutet, ohne weiter verfolgt zu werden. Auch auf das Verhältnis zu Kolonialphantasien und -praktiken anderer Länder und Völker wird nur punktuell verwiesen. Hier liegt noch ein großes Forschungspotential.

Stephan Scholz, Oldenburg

Zitierweise: Stephan Scholz über: Vejas Gabriel Liulevicius The German Myth of the East. 1800 to the Present. Oxford, New York: Oxford University Press, 2009. XI. ISBN: 978-0-19-954631-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scholz_Liulevicius_German_Myth.html (Datum des Seitenbesuchs)

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