Ian D. Thatcher (Hrsg.) Reinterpreting Revolutionary Russia. Essays in Honour of James D. White. Palgrave Macmillan Houndmills, Basingstoke 2006. 219 S. VII, 219 S. ISBN: 1-4039-9898-1

„Reinterpretation“ ist ein großes Wort, das allerlei Erwartungen weckt. Es stellt in Aussicht, Vergangenes unter neuen Gesichtspunkten gedeutet zu finden und zwar so, dass nicht nur Aspekte und Nuancen, sondern größere Sinneinheiten in einem anderen Licht erscheinen. Bezieht man den Begriff auf das „Revolutionäre Russland“, so liegt die Messlatte besonders hoch. Der Titel der von Ian Thatcher herausgegebenen Essaysammlung ist aber weniger Programm als vielmehr Verbeugung vor dem Lebenswerk von James D. White. In der Einleitung, die im Grunde eine wissenschaftliche Kurzbiographie ist, stellt Thatcher Vielseitigkeit und Originalität der Arbeiten des Laudanden heraus, die als Reinterpretationen gelten können. Die Essays der namhaften Autoren sollen die kreativen und epistemischen Abmessungen des Whiteschen Werks offensichtlich widerspiegeln – hinsichtlich der Vielseitigkeit, um nicht zu sagen thematischen Diversität, ist dies jedenfalls in ästhetischer Hinsicht voll und ganz geglückt. Wie steht es nun mit der Originalität der Einzelbeiträge? Wird auch hier dem Autor alle Ehre gemacht und reinterpretiert?

Am ehesten trifft das noch auf Christopher Reads Beitrag zu, der sich zugleich gegen dämonisierende und hagiographische Lenin-Darstellungen wendet und den „historischen Lenin“ wiedergewinnen will. Ähnlich wie Lars T. Lih, der fast zeitgleich eine umfassende Analyse und Reinterpretation von „Čto delat’?“ vorlegte, ist Read um eine Re-Lektüre und Kontextualisierung Leninscher Texte bemüht und kommt dabei zu ähnlichen Resultaten wie Lih – vor allem, dass Lenins Vorstellung von der revolutionären Partei keinen gedanklichen Vorgriff auf Diktatur und Gewaltherrschaft darstellte, sondern an Organisationsgrad und Effektivität der SPD des Deutschen Kaiserreiches orientiert war.

John Keep diskutiert den Forschungsstand zur Geschichte des russischen Terrorismus im Jahre 1905 und kritisiert insbesondere die von Anna Geifman vorgetragene – seiner Ansicht nach einseitige – These von der Kriminalisierung der Revolutionäre. Sein Vergleich des russischen mit dem heutigen Terrorismus zeitigt neben manchen Gemeinsamkeiten auch Unterschiede und liefert gute Argumente gegen eine leichtfertige Gleichsetzung beider Phänomene. Überzeugend ist sein Plädoyer, den Terror nicht so sehr anhand von Ideologien, sondern auch sozialpsychologisch und gruppendynamisch zu interpretieren.

David Saunders widmet sich der Frage nach dem Anteil des Ersten Weltkriegs am Untergang des Zarenreiches. Hatte Leopold Haimson bereits für die Zeit vor 1914 eine starke Tendenz zur sozialen Desintegration ausgemacht, so besteht demgegenüber Saunders auf der einschneidenden Wirkung des Krieges auf das Alltagsleben der Arbeiterschaft und die Gesamtökonomie. Erst die Lasten des Krieges hätten das Zarenreich in eine Schieflage gebracht, zumal allen historischen Erfahrungen zum Trotz das Regime kein Krisenmanagement hatte. Hatten kulturgeschichtlich inspirierte Studien zuletzt (etwa von Peter Holquist, Eric Lohr oder Hubertus Jahn) Nationalismus und zunehmende ethnische Spannungen als Ergebnisse des Weltkrieges und als Fliehkräfte des Imperiums hervorgehoben, so versucht Saunders einigermaßen überzeugend, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Argumente wieder stärker mit in die Diskussion zu bringen.

Damit sind die stärkeren Beiträge des Bandes genannt. Ansonsten erfährt man, dass Nadežda Krupskaja nicht nur Gattin, Sekretärin und Gesellschafterin Lenins war, sondern auch eine eigenständige russische Revolutionärin und Bildungspolitikerin (von Jane McDermid und Anya Hillyar); – dass der Austausch des gefangen genommenen „Roten Admirals“ Raskolnikov gegen eine Reihe britischer Staatsbürger die sowjetisch-britischen Beziehungen im Jahre 1919 wieder in Gang brachte (von Jonathan D. Smele); – dass die russische Revolution im Februar 1917 begann und exakt am 6. Januar 1918 mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung endete (von Rex A. Wade) – wobei nicht diskutiert wird und unklar bleibt, wer die Eindeutigkeit einer solch strengen Definition überhaupt braucht und wozu; – dass Trockij als Kriegskommissar konsequent die Verwendung ehemaliger zarischer Offiziere als militärische Spezialisten gegen Stalin und andere Befürworter einer rein proletarischen Armee verteidigte und die Praxis ihm dabei recht gab (von Geoffrey Swain); – dass die russische Terroristin Spiridonova von der britischen Presse zeitweilig zur Heldin gekürt wurde (von Jane McDermid), wobei man zweifellos mehr über die britische Öffentlichkeit als über das revolutionäre Russland erfährt; – dass der Ausschluss Sowjetrusslands aus der internationalen Diplomatie nach dem Ersten Weltkrieg mehr Schaden als Nutzen brachte (von Paul Dukes); –dass die staatliche Tretjakov-Galerie zu einem Zugpferd der Entwicklung des sozialistischen Realismus wurde (von Mary Hannah Byers); – dass Bucharin großen Anteil an der Initiierung der Kampagne gegen Pokrovskij hatte und diese erst richtig im Jahre 1936 begann (von David Brandenberger).

Kurz: Man erfährt in den zuletzt summarisch genannten Beiträgen allerlei Interessantes, das unserem Bild des revolutionären Russlands vielleicht einige Farbtupfer hinzufügt und an manchen Stellen für mehr Tiefe sorgt. Aber da die Texte doch eher informativen als innovativen Charakter haben, kann von Reinterpretation keine Rede sein.

Fazit: Eine Essaysammlung mit im einzelnen durchaus lesenswerten und interessanten Beiträgen. Das Problem ist der vollmundige Titel – er weckt womöglich Erwartungen, denen der Band in keiner Weise gerecht werden kann. Es fehlt dem Unternehmen der rote Faden, der die Einzelbeiträge befruchten und auf ein zusammenhängendes Ganzes ausrichten würde, auf das sie dann ihrerseits produktiv zurückstrahlen könnten. An eine Aufsatzsammlung wie etwa die von Raleigh herausgegebenen „Provincial Landscapes“ reicht Thatchers unterhaltsames Potpourri nicht heran.

Felix Schnell, Berlin

Zitierweise: Felix Schnell über: Ian D. Thatcher (Hrsg.) Reinterpreting Revolutionary Russia. Essays in Honour of James D. White. Palgrave Macmillan Houndmills, Basingstoke 2006. ISBN: 1-4039-9898-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 444-445: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schnell_Thatcher_Reinterpreting_Revolutionary_Russia.html (Datum des Seitenbesuchs)