Jan Kusber, Andreas Frings (Hrsg.) Das Zarenreich, das Jahr 1905 und seine Wirkungen. Bestandsaufnahmen. Lit Verlag Berlin [usw.] 2007. 436 S. = Mainzer Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 3. ISBN: 978-3-8258-8809-1.

Während das Jahr 1905 als Erinnerungsort Politik und Öffentlichkeit in Russland eher kalt lässt, stellt es für Historiker nach wie vor einen faszinierenden Bezugspunkt dar. In kaum einem anderen Moment der russischen Geschichte verdichtet sich Wandel so sehr oder wird umgekehrt gesellschaftlicher und kultureller Wandel so manifest. Und nicht zuletzt mit Blick auf die Entwicklung nach 1917 scheinen mit kaum einer anderen Phase so viele Alternativen und vertane Chancen verbunden zu sein wie mit 1905. Die Herausgeber und Verfasser des Bandes haben sich vorgenommen, „Bestandsaufnahmen zu verschiedenen Aspekten des Jahres 1905 vorzulegen, die den Stand der Forschung darlegen und darüber hinaus weniger erforschte Themenfelder aufzeigen sollen“.

Die Beiträge verteilen sich auf vier Abteilungen, die der Außenpolitik, sozialen Großgruppen, imperialer Peripherie sowie intellektueller Verarbeitung der Revolution gewidmet sind. In der außenpolitischen Abteilung wird vor allem die relative Bedeutungslosigkeit der Revolution von 1905 für die internationale Diplomatie herausgearbeitet. Sönke Neitzel plädiert hier für eine mentalitätsgeschichtliche Erweiterung der Diplomatiegeschichte – in der Tat kann man nach der Lektüre der Beiträge von Neitzel und Stefan Albrecht den Eindruck haben, dass das analytische Instrumentarium der außenpolitischen Historiographie erst noch erweitert werden muss, um jenen kulturellen und innergesellschaftlichen Zusammenhängen und Wirkungen auf den Grund gehen zu können, die in den Beiträgen eigentlich angegangen werden sollten.

Den intellektuellen Schwerpunkt des Bandes bilden vor allem die Beiträge von Jan Kusber, Joachim von Puttkamer und Dittmar Dahlmann über Bauern, Arbeiter und Unternehmer in der Revolution. Hier handelt es sich um fast handbuchartige Bestandsaufnahmen des Forschungsstandes. Zugleich positionieren sich die Autoren aber auch in einigen immergrünen Fachkontroversen. Kusber mahnt die Zunft völlig zu recht, es sich mit den Bauern nicht zu einfach zu machen: Bauern begegnen in der Revolution einerseits als wilde, unberechenbare Gewalttäter, andererseits aber auch als politische Akteure, die in der Lage waren, sich intellektuelle Diskurse anzueignen und sogar ihre Interessen politischen Diskursen einzuschreiben. In ganz ähnlicher Weise will auch von Puttkamer die Arbeiterschaft nicht auf gewaltsame kollektive Eruptionen reduziert sehen und betont, dass die Arbeiterbewegung auch eine politische, vor allem aber auch eine Emanzipationsbewegung mit Zivilisierungs­anspruch war. Im Grunde machen die Autoren damit noch gar nicht so alte, aber mittlerweile ältere sozialgeschichtliche The­sen wieder stark und erinnern an „optimistische“ Geschichtsdeutungen. Dagegen ist vor allem mit dem eingeschränkten Blick auf 1905 wenig einzuwenden, aber man kann fragen, welche Rolle diese Erscheinungen in längerer Perspektive spielten. Dahlmann gibt in seinem Beitrag über die Unternehmer nolens volens eine eindeutige Antwort: Alle diese Strömungen, Proto- und Quasi-Entwicklungen waren zu schwach, um eine gestaltende Kraft im revolutionären Prozess bilden oder sich auch nur behaupten zu können. Ähnliches gilt auch für den Neuland betretenden Beitrag von Alexander Kap­lunovskiy über die Angestellten. Hier werden neben gewissen Gemeinsamkeiten mit den westeuropäischen Staaten vor allem die Besonderheiten des Zarenreiches, und insbesondere die korporativen Schwächen der russischen Gesellschaft, deutlich, die auch den Angestellten letztlich eine bedeutendere Rolle im revolutionären Prozess versagten.

Weniger übergreifende Bestandsaufnahmen als vielmehr Erschließungen vernachlässigter Bereiche bieten die der imperialen Peripherie gewidmeten Beiträge. Hier wird hinlänglich klar, dass es 1905 viele Revolutionen und revolutionäre Prozesse gab, die teilweise der zentralen Dramaturgie folgten, teilweise aber auch den dortigen Gegebenheiten entsprechende Son­derwege gingen. Stellvertretend sei hier der Beitrag von Andreas Frings genannt, der deutlich macht, wie wenig der revolutionäre Impuls unter den Muslimen des mittleren Wolgagebietes verfing und stattdessen eher reformatorische Strömungen stärkte.

In der abschließenden, der intellektuellen Reflexion der Revolution gewidmeten Sektion prallen in gewisser Weise stellvertretend für die zivilgesellschaftliche Kontroverse die Beiträge von Alexander Semyonov und Rainer Goldt über die Bedeutung der „liberalen Alternative“ einerseits und die aus den „Wegzeichen“ hervorgehende Weltfremdheit der intelligencija andererseits aufeinander.

Fazit: Die Autoren haben eine Mischung aus Handbuch und Aufsatzsammlung vorgelegt, deren Gefüge sozialgeschichtlichen Zuschnitt hat. Wichtige soziale Gruppen und Institutionen, deren Behandlung man dabei erwarten könnte, bleiben allerdings außen vor: Adel, Militär, Bürokratie. Zu wenig Beachtung finden auch Aspekte, die unter dem kulturgeschichtlichen Rubrum firmieren: Entstehung neuer Symboliken, Neukonstruktion sozialer Räume und Identitäten, aber auch Gewalterfahrung als Bedrohung und als Erweiterung der Handlungsressourcen. Nichtsdestotrotz aber gibt der vorliegende Sammelband zu zentralen Themen einen fundierten Überblick über den Forschungsstand zum Jahr 1905 und wirft erhellende Blicke auf den einen oder anderen vernachlässigten Bereich.

Felix Schnell, Berlin

Zitierweise: Felix Schnell über: Jan Kusber, Andreas Frings (Hrsg.): Das Zarenreich, das Jahr 1905 und seine Wirkungen. Bestandsaufnahmen. Lit Verlag Berlin [usw.] 2007.  Mainzer Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 3. ISBN: 978-3-8258-8809-1., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 288: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schnell_Kusber_Das_Zarenreich.html (Datum des Seitenbesuchs)