Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 478-479

Verfasst von: Christoph Schmidt

 

Franziska Schedewie: Die Bühne Europas. Russische Diplomatie und Deutschlandpolitik in Weimar, 1798–1819. Heidelberg: Winter, 2015. 492 S. ISBN: 978-3-8253-6427-4.

Faust war das Nationaldrama der DDR. Hier schien der tätige Mensch zu sich selbst gekommen, nimmermüde im Einsatz für das Kollektiv. Dennoch haben Wissenschaftler aus der DDR zu Weimar nur wenig Bleibendes hervorgebracht, auch eine Goethe-Biographie als Entsprechung zu Richard Friedenthal blieb aus. Sehr aktiv waren die Slavisten und Osteuropahistoriker der DDR allerdings auf dem weiten Feld deutsch-russischer Beziehungen – geradezu ihr Paradethema, da sich hier das enge Verhältnis zu Russland auch in älteren Epochen herausstellen ließ. Mit dem Kollaps der DDR brach dieses seinerzeit auch im Westen gepflegte Thema jedoch hüben wie drüben zusammen. Franziska Schedewie kommt daher als erstes das große Verdienst zu, einerseits an die Erforschung deutsch-russischer Wechselseitigkeit anzuknüpfen, andererseits auf das gewaltige und bislang kaum genutzte Potential dieser Blickrichtung hinzuweisen.

Quellengrundlage ihres Buches sind vor allem die Briefe Maria Pavlovnas, der Schwester Zar Alexanders I., die 1804 den Weimarer Erbprinz Karl Friedrich heiratete und 1859 in Belvedere bei Weimar starb. Über ihrem Grab wurde auf dem historischen Friedhof die russische Kapelle errichtet. Zweck der Ehe aus Peterburger Sicht war nicht zuletzt der Wunsch, in Thüringen und Sachsen einen gewissen Einfluss auszuüben. Die Weimarer Kultur als Heiratsmotiv schien aus zarischer Sicht „eher nachrangig“ (S. 131). Sehr offenherzig heißt es dazu in einem Brief Maria Pavlovnas von 1805: „Alexandre dans sa lettre me parle de lAthene de lAllemagne, cela ma fait rire.“ (S. 143) Im Gespräch mit Goethe spitzte Maria Pavlovna nach eigener Aussage aber schon die Öhrchen; nur bleibt in diesem Band unklar, ob sie für Goethes Russland-Interesse Impulse irgendeiner Art vermitteln konnte. Viele ihrer Urteile sind auch aus heutiger Sicht interessant, z. B. wenn sie nach Preußens Zusammenbruch 1806 schreibt, Russland sei der einzig verbliebene Rechtsstaat Europas (S. 201).

Bisweilen gelangt Schedewie zu Thesen, die auf ihrer Materialgrundlage vage erscheinen. So behauptet sie, Zar Alexander I. habe die Identifikation von Herrscherperson und Herrschaftsterritorium überwunden. Auf diese Weise sei ihm ein entscheidender Paradigmenwechsel in der Politik geglückt (S. 215). Diese Auffassung wirkt schon deshalb überraschend, weil Briefe aus der Familie des Zaren für einen so weitreichenden Wandel keine zentrale Quelle abgeben. Es mag schon so gedacht worden sein, doch gestattet reine Deklamation noch keinen Schluss auf die Durchsetzung. Wenn überhaupt, ließe sich diese Sicht aus der Rechtsgeschichte ableiten, die für das autokratische Dogma im 19. Jahrhundert immer wichtiger wurde. Alles in allem liegen die Stärken dieser Arbeit weniger in der Weimarer Kulturgeschichte als vielmehr darin, zur Erforschung der russischen Deutschlandpolitik vor und nach dem Wiener Kongress eine neue Seite aufzuschlagen. Weil das Private das Offizielle deutlich überwog, ließe sich dieses mit Fug und Recht auch als Innenseite bezeichnen.

Christoph Schmidt, Köln

Zitierweise: Christoph Schmidt über: Franziska Schedewie: Die Bühne Europas. Russische Diplomatie und Deutschlandpolitik in Weimar, 1798–1819. Heidelberg: Winter, 2015. 492 S. ISBN: 978-3-8253-6427-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt_Schedewie_Die_Buehne_Europas.html (Datum des Seitenbesuchs)

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