Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 146-147

Verfasst von: Jürgen W. Schmidt

 

Hans Rothe (Hg. ): Hermann von Boyen und die polnische Frage – Denkschriften von 1794 bis 1846. Bearbeitet und mit einer Einleitung versehen von Hans Rothe. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2010. 584 S., Abb. = Veröffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz, 66. ISBN: 978-3-412-20553-9.

Der emeritierte Slawist an der Universität Bonn Professor Hans Rothe hat mit einer für sein hohes Alter bemerkenswerten Schaffenskraft auf eine Anregung von Friedrich Benninghoven hin die im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem lagernden, bislang kaum beachteten Denkschriften, Entwürfe und sonstigen Dokumente des preußischen Offiziers und zweimaligen preußischen Kriegsministers (1814–1819 und 1841–1847) Hermann von Boyen über Polen und die Polnische Frage herausgegeben. Dabei verschweigt Rothe nicht, dass diese Denkschriften oftmals ohne jegliche praktische Bedeutung blieben und in den meisten Fällen nur der Selbstverständigung Boyens über aktuelle politische, militärische, wirtschaftliche und verwaltungsorganisatorische Probleme Preußens dienten. So gibt es bezeichnenderweise keinerlei Hinweis darauf, dass das abdruckte Dokument Nr. 20 (Entwurf einer Proklamation im Namen des Königs zur Polenfrage vom 14. Januar 1846) je eine praktische Verwendung fand bzw. irgendeinen nachweisbaren Einfluss auf die preußische Polenpolitik ausübte. Wenn also der persönliche Einfluss Boyens auf die preußische Polenpolitik in allen Etappen seines Lebens, auch während seiner amtlichen Wirksamkeit als reformerisch gestimmter Kriegsminister, recht gering zu veranschlagen ist, handelt es sich jedoch bei allen von Rothe vorzüglich edierten 21 Texten um Zeugnisse eines intelligenten und gebildeten Zeitzeugen, welche daher Beachtung verdienen. Seiner etwa 240 Seiten umfassenden Textedition stellt Rothe eine 300-seitige „Einleitung“ voran, in welcher er die Lebensetappen Boyens mitsamt seinen in diesen Zeiträumen entstandenen Schriften zur Polenfrage einer eingehenden Betrachtung und kritischen Analyse unterwirft. Obwohl Boyen in Friedrich Meinecke einen sehr namhaften Biographen erhalten hat, kommt Rothe nicht umhin, Meineckes Tätigkeit zu kritisieren. So hat Meinecke gewisse Teile des Nachlasses von Boyen recht nachlässig und oberflächlich genutzt und somit zur Schaffung von Legenden über die angeblichen Gründe von Boyens Ausscheiden aus dem Ministeramt 1819 beigetragen. Die maßgebliche Biographie Boyens ist gemäß Rothe daher erst noch zu schreiben. Auch aus diesem Grunde war Rothe in vorliegendem Werk stark darum bemüht, Boyen „selbst zu Wort kommen“ zu lassen. (S. 21) So war der streng erzogene Ostpreuße Boyen ungeachtet aller inhalierten preußischen Ordnung und Disziplin um 1796 der überheblich anmutenden Auffassung, „ein in Süd-Preussen in den Kopf geschlagenes Loch ist sicher nicht so hoch anzurechnen, wie in den andren Provinzen.“ Man sollte bei derartigen und späteren, gleichwertigen Äußerungen Boyens über „die Polen“ jedoch nicht außer Acht lassen, dass er unter „den Polen“ meistens nur den polnischen Adel verstand und große persönliche Sympathie für die ärmsten Schichten Polens verspürte. Boyen war aufrichtig bemüht, den Polen in Preußens Ostprovinzen Wege zu eröffnen, zu vollwertigen und gleichberechtigten preußischen Staatsbürgern zu werden. Das betraf auch den ungehinderten, staatlich geförderten Gebrauch der polnischen Sprache. Hans Rothe bezeichnet hier Hermann von Boyen überraschenderweise als Ersten in Preußen, der den Vorschlag zu einer „akademischen Slavistik“ (S. 267) gemacht habe, indem er 1836 in einem Schreiben an den Fürsten Wilhelm Radziwill an den Universitäten zu Breslau, Königsberg und Berlin die Einrichtung von Lehrstühlen der polnischen Sprache vorschlug. Der junge Offizier Boyen, der um 1791 an der Königsberger Universität neben Kant auch den dortigen Nationalökonomen Christian Jakob Kraus hörte, war seitdem fest in volkswirtschaftlichem Denken befangen. Die von Rothe edierten Denkschriften zeigen dies mehrfach deutlich, wenn z. B. Boyen auf den langen preußischen Küstenstrich von Stettin bis Memel und die Möglichkeiten einer dadurch bedingten Kanalisierung des polnischen Handels verweist. In seinen abschließenden Bemerkungen zur Edition weist Hans Rothe auch auf den Umstand hin, dass die Bedeutung Boyens für die preußisch-polnische Frage im Lichte der Ereignisse des Jahres 1945 noch zugenommen hat.

Jürgen W. Schmidt, Berlin

Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: JGO_Rezensionen IOS online, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt_Rothe_Hermann_von_Boyen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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