Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 315-316

Verfasst von: Jürgen W. Schmidt

 

Richard Lein: Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg. Wien, Berlin, Münster: Lit, 2011. 441 S., 3 Ktn., 21 Abb., 8 Tab. = Europa Orientalis, 9. ISBN: 978-3-643-50158-5.

Bei vorliegendem Buch handelt es sich um eine Wiener Dissertation, welche bei Arnold Suppan entstand. Aufgrund ihres Inhalts stieß die Dissertation schon frühzeitig bei tschechischen Historikern auf lebhaftes Interesse, denn es ging hierbei zugleich um den Gründungsmythos der Tschechoslowakischen Republik der Zwischenkriegszeit. Selbst in der neueren wissenschaftlichen Literatur hielt sich nämlich hartnäckig die Legende von der nationalen Unzuverlässigkeit mehrheitlich mit tschechischen Soldaten versehener Regimenter der k.u.k. Monarchie im Ersten Weltkrieg, wenn diese auf russische Einheiten (so das Prager IR-28 im Gefecht von Esztebnekhuta im April 1915) bzw. auf die unter russischer Schirmherrschaft aufgestellte Tschechische Legion (so das Pilsener IR-35 und das Neuhauser IR-75 in der Schlacht von Zborów im Juli 1917) trafen.

Gemäß dem Bericht des Korpskommandos des österreichischen III. Korps soll dabei im ersteren Fall „das Regiment, ohne einen Schuss abzugeben, von einem russischen Bataillon gefangen oder eigentlich aus der Stellung abgeholt“ (S. 152) worden sein, worauf anschließend die Reste des Infanterie-Regiments 28 schimpflich aufgelöst wurden. In einer konzisen militärhistorischen Studie untersucht Richard Lein eingangs die nationale Zusammensetzung und personelle Ergänzung der betreffenden Regimenter einschließlich des militärischen Werdegangs ihrer Offiziere. Lein verweist zu Recht darauf, wie verhängnisvoll es sich im Gefecht auswirkte, dass im multinationalen Offizierskorps der Habsburgermonarchie die Tschechen aus den verschiedensten Gründen unterrepräsentiert waren und es im Verlaufe des Weltkriegs nicht gelang, die überwiegend mit tschechischen Soldaten versehenen Regimenter mit ausreichend tschechischsprachigen Offizieren zu besetzen. Es gelingt Lein weiterhin in einer durchaus als meisterlich zu bezeichnenden Untersuchung der Gefechte von Esztebnekhuta 1915 und Zborów 1917, den Mythos vom Versagen und vom Verrat der tschechischen Soldaten völlig zu widerlegen. Alle drei Infanterieregimenter wurden vielmehr trotz erbitterter Gegenwehr aus den von Lein glaubhaft dargestellten äußeren Umständen fast total aufgerieben. Da die Masse der Regimentsangehörigen anfangs nur als „vermisst“ galt – zu großen Teilen waren sie allerdings gefallen oder verwundet in Gefangenschaft geraten –, bildete sich im ziemlich tschechophoben höheren Offizierskorps schnell der Verdacht heraus, die Tschechen hätten hier aus nationalen Gründen versagt und wären auf die russische Seite übergelaufen. Unglaubhafte und ungeprüft weitergegebene Gerüchte – hierbei zeichnete sich General Svetozar Boroevic von Bojna unrühmlich aus – bewirkten 1915 in einer schnellen kaiserlichen Reaktion die schimpfliche Auflösung des Regiments 28. Ähnlich war es 1917 bei Zborów, wo die Tschechische Legion auf russischer Seite zwar eine relativ unbedeutende Rolle spielte, doch allein durch ihre Existenz in höheren Kreisen der österreichisch-ungarischen Armee die böse Vermutung entstehen ließ, auch hier hätten die beiden tschechischen Regimenter Verrat geübt.

Zwei politische Umstände begünstigten das Entstehen und die jahrzehntelang fortdauernde Existenz der Legenden von den „tschechischen Verrätern“, obwohl von Anbeginn genug Aktenmaterial und Erinnerungen von Zeitzeugen vorlagen, welche jene Legenden falsifizierten. Einerseits war die deutschnationale Fraktion im österreichischen Reichsrat während des Ersten Weltkriegs sehr daran interessiert, aus innenpolitischen Gründen den Tschechen im Bestand der Monarchie in der Sprachen- und Autonomiefrage keinerlei Zugeständnisse zu machen. Das Anheizen einer durch Gerüchte genährten Debatte um die generell staatsfeindliche und hochverräterische Gesinnung der Tschechen kam ihren Interessen deshalb sehr entgegen. Andererseits waren die Exil­tschechen in den Ententeländern verständlicherweise ebenfalls daran interessiert, die durchaus unbedeutenden Verdienste der auf russischer Seite kämpfenden Tschechen propagandistisch herauszukehren und nach Kräften zu übertreiben. Besonders durch die Pflege des „Legionärskults“ in der Tschechoslowakischen Republik nach 1918 erhielt jene Legende vom „tschechischen Verrat“ weiteren Auftrieb.

Jürgen W. Schmidt, Berlin

Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: Richard Lein: Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg. Wien, Berlin, Münster: Lit-Verlag, 2011. 441 S., 3 Ktn., 21 Abb., 8 Tab. = Europa Orientalis, 9. ISBN: 978-3-643-50158-5, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Schmidt_Lein_Pflichterfuellung_oder_Hochverrat.html (Datum des Seitenbesuchs)

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