Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 153-155

Verfasst von: Jürgen W. Schmidt

 

Aleksandra V. Kaljakina: Pod ochranoj russkogo velikodušija. Voennoplennye Pervoj mirovoj vojny v Saratovskom Povolže (1914–1922). Moskva: Kučkovo pole, 2014. 303 S. ISBN: 978-5-9950-0443-1.

Die Historikerin Kaljakina hat sich bereits mehrfach mit dem Schicksal der Kriegsgefangenen in Russland im Ersten Weltkrieg, speziell im Saratover Gouvernement, befasst. Als Grundlage ihres vorliegenden Buches dienen Dokumente aus verschiedensten russischen Archiven (u. a. Staatsarchiv der Russischen Föderation, Russisches Staatliches Militärhistorisches Archiv, Staatliches Historisches Archiv der Wolgadeutschen, Staatsarchiv des Saratover Gebiets), aus dem Saratover heimatkundlichen Gebietsmuseum, gedruckte schriftliche Quellen, darunter auch Memoirenliteratur, sowie die wissenschaftliche Literatur. Eingangs weist Kaljakina darauf hin, dass der Sammelbegriff „Kriegsgefangene“ verschiedene Personengruppen umfassen kann, also neben den kriegsgefangenen Militärs die internierten zivilen Staatsbürger aus den Russland feindlichen Staaten (neben seit Jahrzehnten in Russland lebenden Deutschen und Österreicher-Ungarn also z.B. Armenier und Griechen mit türkischer Staatsbürgerschaft), aber ebenso verschleppte bzw. als „Geiseln“ mitgenommene zivile Bewohner Ostpreußens.

Die ethnisch recht vielfältigen „Kriegsgefangenen“ wurden im durch Multikulturalität (Wolgadeutsche) geprägten Saratover Gouvernement von Anfang an relativ aufgeschlossen aufgenommen und behandelt, und sie erwarben sich ebenso schnell durch ihre vielgestaltige Tätigkeit eine geachtete, zunehmend unverzichtbare Position in der regionalen Wirtschaft und Landwirtschaft. Durch das ganze Buch Kaljakinas zieht sich als These, dass die Ausländer aus feindlichen Staaten, die sich kriegsbedingt im Saratover Gebiet aufhielten, massenhaft die Positionen der zur russischen Armee einberufenen männlichen Bevölkerung einnahmen, dadurch ein sich seines Wertes sehr wohl bewusster Bestandteil der regionalen Bevölkerung wurden und sich deshalb später unter den Bedingungen von Revolution und Bürgerkrieg politisch behaupten konnten. Hinzu kam, dass kriegsgefangene Slawen im panslawistisch gestimmten Russland bei entsprechendem Wunsch relativ schnell russische Untertanen werden konnten und kriegsgefangene Elsässer und Lothringer auf Wunsch Frankreichs in Russland von staatlicher Seite nicht mehr als „Deutsche“ betrachtet wurden. Etwas differenzierter war die Lage bei den kriegsgefangenen Türken, die sich wegen ihres Gesundheitszustandes und ihrer mangelnden Vorbildung öfters als unbrauchbar zur Verwendung in der Wirtschaft erwiesen, anderseits aber, falls es sich bei ihnen etwa um Armenier oder Griechen handelte, gar nicht mehr richtig als „türkische Staatsbürger“ galten. Wenn in Gesamtrussland im Februar 1916 von insgesamt 1.020.000 Kriegsgefangen bereits 700.000 in ständigen Arbeitsverhältnissen wirtschaftlich tätig waren, weist Kaljakina mittels Statistiken und Diagrammen nach, dass dies im Saratover Gebiet ebenso der Fall war. Kriegsgefangene waren sich des Wertes ihrer vorhandenen professionellen Kenntnisse bewusst, streikten bei zu schlechter Entlohnung und hatten dabei die russischen Polizeiorgane auf ihrer Seite, welche fast regelmäßig die Berechtigung der gestellten Forderungen anerkannten. Fälle von Widerstand, Sabotage oder gar Spionage, aber ebenso von Flucht aus der Gefangenschaft traten kaum auf. Staatlicherseits griff man eigentlich nur noch dann zuungunsten von Kriegsgefangenen ein, wenn etwa, wie z. B. auf dem Grundeigentum der Fürstin Gagarina, ein Kriegsgefangener als nunmehriger „Dorfältester“ administrative Macht in die Hände bekam oder aber Kriegsgefangene als Aufseher einheimischer Arbeitskräfte beschäftigt wurden. Ähnlich der „eingeborenen“ Bevölkerung erfolgte durch die russische Revolution ab 1917 eine Politisierung der Kriegs­gefangenen, welche sich im Saratover Gebiet zu Tausenden den örtlichen Einheiten der Roten Armee oder aber den konterrevolutionären tschechischen Verbänden anschlossen. Kaljakina verweist an dieser Stelle gleich mehrfach auf das Beispiel des im Saratover Gebiet wirkenden Ernst Reuter, später namhafter Oberbürgermeister von Berlin (West). Alle diese Aktivitäten wurden allerdings von der ab 1918/1919 spürbar werdenden Repatriierung der vormaligen Kriegsgefangenen gehemmt, und der einst hohe Einfluss der Kriegsgefangenen im Saratover Gebiet ging bis zum Ende der Repatriierung 1922 auf Null zurück. Einige wenige, in der nunmehrigen Sowjetunion verbliebene, vormals deutsche Kriegsgefangene fanden ihren Platz als Staatsfunktionäre in der neu geschaffenen Republik der Wolgadeutschen. Zusammenfassend gesehen überrascht der hohe Einfluss auf die regionale Wirtschaft und damit indirekt auf das Funktionieren der lokalen Gesellschaft, welchen die Verfasserin den Kriegsgefangenen im Saratover Wolgagebiet von 19141917 zuschreibt.

Jürgen W. Schmidt, Berlin

Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: Aleksandra V. Kaljakina: Pod ochranoj russkogo velikodušija. Voennoplennye Pervoj mirovoj vojny v Saratovskom Povolž’e (1914–1922). Moskva: Kučkovo pole, 2014. 303 S. ISBN: 978-5-9950-0443-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt_Kaljakina_Pod_ochranoj_russkogo_velikodusija.html (Datum des Seitenbesuchs)

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