Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Jürgen W. Schmidt

 

Zaur T. Gasimov Militär schreibt Geschichte. Instrumentalisierung der Geschichte durch das Militär in der Volksrepublik Polen und in der Sowjetunion 1981–1991. Berlin: LIT Verlag, 2009. 210 S. = Osteuropa, 2. ISBN: 978-3-643-10001-6.

Zaur Gasimov legt in diesem Buch Erkenntnisse aus seiner bei Leonid Luks entstandenen Dissertation vor. Sowohl die polnischen wie die sowjetischen Militärs versuchten im betrachteten Zeitraum, die zunehmend militärkritischen Stim­mungen in der Gesellschaft einzudämmen, die Armee jeweils als moralische Autorität und als Hüter gesamtstaatlicher (Sowjetunion) bzw. nationaler (Polen) Werte darzustellen und auf die rasant wachsende ideologische Spaltung in der Gesellschaft integrativ zu wirken. Die polnischen Militärs erwiesen sich dabei als weit weniger ideologisiert als die sowjetischen Militärs, so dass der Übergang vom Sozialismus zu einer postkommunistischen Gesellschaft in Polen im Gegensatz zur Sowjetunion ohne Gewalt ablief. Als bevorzugte Prinzipien der Geschichtsschreibung durch Militärs fanden „Selektivität und Mythologisierung“, die „Historisierung der Gegenwart“ und die „Märtyrisierung der Armee“ (Katyń – polnische Armee; stalinsche Repressionen – Sowjetarmee) Anwendung. Als verhängnisvoll erwies sich im Vielvölkerstaat Sowjetunion das ‚Hochkochen‘ vielfältiger Nationalismen, welche im Gegensatz zum Nationalismus in Polen desintegrierend wirkten.

Das Buch von Gasimov erweist sich als klar gegliedert. Er fasst seine Erkenntnisse jeweils am Ende der Kapitel bzw. des Buches prägnant zusammen. Anerkennenswert ist der Versuch des Autors, sich mit einem militärhistorischen Thema auseinanderzusetzen. So weit – so gut. Doch gehört zu einer Auseinandersetzung mit militärhistorischen Problemen ein minimales militärisches Basiswissen, das Gasimov zu fehlen scheint. Die im Anhang gebrachte Tabelle militärischer Dienstgrade der sowjetischen und polnischen Armee ist für das Verständnis seines Buches nicht zwingend nötig. Zudem fehlen hier für die Sowjetarmee unverständlicherweise alle Marschallsgrade, aber auch die Dienstgrade Gefreiter und Unteroffizier. Auch die polnische Armee scheint über keinerlei Gefreite und Unteroffiziere verfügt zu haben, zusätzlich fehlt der „Marschall von Polen“. Mag dies noch als Petitesse erscheinen, so wird es kritisch, wenn durch eine ungeeignete Übersetzung militärischer Begriffe wesentliche Inhalte und Zusammenhänge verwischt werden. Auf S. 127 spricht Gasimov in wortwörtlicher Übersetzung von einer „Obersten Gor’kij-Baukommandolehranstalt“, an welcher man auch Usbekisch lernte, anstatt die Lehreinrichtung in gebräuchlicher Übersetzung „Offiziershochschule für Kommandeure von Baupioniereinheiten in Gorkij“ zu nennen. Deshalb vergisst der Verfasser auch darüber nachzudenken, warum man gerade in Gorkij, dem einstigen und heute wieder so heißenden Nižnij Novgorod (!) 1989 Usbekischkurse für künftige Baupionierleutnants einführte. Das Rätsel löst sich leicht, wenn man weiß, dass in Baupioniereinheiten die politisch und national unzuverlässigsten, schlechtestgebildeten, kaum russischsprechenden Wehrpflichtigen dienten, zumeist aus den mittelasiatischen Republiken der Sowjetunion stammend. Daher war für ihre häufig russischen Offiziere die Kenntnis des Usbekischen durchaus sinnvoll. Gasimov durchschaut ebenfalls nicht, dass zwischen den gebräuchlichen Hilfsarbeiten bei der Ernte durch reguläre Truppenteile und den Tätigkeiten der „strojbats“ (S. 163) ein himmelweiter Unterschied herrschte, den hier näher zu erläutern der Platz fehlt. Leider spricht Gasimov an mehreren Stellen (z.B. S. 136 und S. 152) ganz pauschal vom „sowjetischen Offizierskorps“ bzw. „sowjetischen Militär“, doch stellte das sowjetische Militär zu Perestrojka-Zeiten keinesfalls mehr eine homogene Masse dar, sondern war politisch bereits stark zerklüftet, und nationale bzw. nationalistische Stimmen begannen sich in den einzelnen Ethnien unüberhörbar zu regen. Dies konnte der Rezensent in seiner Studienzeit an der Kalinin-Militärakademie im damaligen Leningrad von 1987 bis 1990 deutlich erkennen. Hier weichen die Wertungen einer reinen Literaturarbeit eines Historikers Jahrgang 1981 und die Zeitzeugenerfahrungen des Rezensenten (Jahrgang 1958) oft deutlich voneinander ab. Wenn z. B. Karem Raš von Gasimov auf den Seiten 124–131 ziemlich umfassend als „typisch“ für die Stimmungen im sowjetischen Offizierskorps abgehandelt wird, so galt dieser tatsächlich unter den Mitstudenten im Dienstgrad Hauptmann / Major und bei einem bedeutenden Teil der Lehroffiziere mit Dienstgrad Oberst / Generalmajor schlichtweg als ‚Spin­ner‘. Dagegen wird die seinerzeit bahnbrechende Rolle des Generaloberst Volkogonov bei der Revision von Legenden der sowjetischen Geschichtsschreibung von Gasimov unterschätzt. Nichts liest man bei ihm von den nicht wenigen Versuchen jüngerer sowjetischer Militärhistoriker in der Zeit von 1987 bis 1990, die vielfältigen patriotischen Legenden über den „Großen Vaterländischen Krieg“ – z.B. in der damals populären Zeitschrift „Argumenty i fakty“ – richtigzustellen. In Leningrad kämpfte damals Korvettenkapitän Verbickij in der Zeitung der Baltischen Rotbannerflotte engagiert gegen die unsäglichen Legenden um den sowjetischen U-Boot-Kapitän und Versenker der „Wilhelm Gustloff“ Marinesko, bis letztendlich Präsident Gorbačev wider besseres Wissen, um konservative kommunistische Kreise für sich zu gewinnen, Marinesko am 5. Mai 1990 den Titel „Held der Sowjetunion“ verlieh.

Jürgen W. Schmidt, Oranienburg

Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: Zaur T. Gasimov Militär schreibt Geschichte. Instrumentalisierung der Geschichte durch das Militär in der Volksrepublik Polen und in der Sowjetunion 1981–1991. LIT Verlag Berlin 2009. = Osteuropa, 2. ISBN: 978-3-643-10001-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt_Gasimov_Militaer_schreibt_Geschichte.html (Datum des Seitenbesuchs)

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