Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 128-129

Verfasst von: Wolf-Heinrich Schmidt

 

Ivan Biliarsky: The Tale of the Prophet Isaiah. The Destiny and Meanings of an Apocryphal Text. Leiden [etc.]: Brill, 2013. XI, 310 S., 6 Abb. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 23. ISBN: 978-90-04-21153-7.

Der bulgarische Historiker und Mediävist legt die ins Englische übersetzte erweiterte Fassung seiner 2011 in Sofia publizierten Monographie über das Skazanie des Propheten Jesaja und die Herausbildung der politischen Ideologie im frühmittelalterlichen Bulgarien vor. Das Skazanie gehört zu den rätselhaftesten Texte der bulgarischen mittelalterlichen Literatur. Im ersten Teil wird die Himmelsreise des Propheten Jesaja beschrieben, im zweiten erzählt, wie er im göttlichem Auftrag die Bulgaren in das ihnen verheißene Land führt, es besiedelt und ihren ersten Herrscher Slav einsetzt. Dem mythischen Herrscher folgt eine lange Reihe weiterer Herrscher, heidnischer und christlicher, legendärer und historisch identifizierbarer, bis zu den Herrschern, die über das gemeinsame bulgarisch-griechische Reich herrschen. Die Erzählung endet mit der Erwähnung der Pečenegeneinfälle (11. Jh.). Erstmalig publiziert wurde sie 1890 von Ljubomir Stojanović. Bekannt geworden ist sie vor allem unter dem von Jordan Ivanov (Bogomilski knigi i legendi. Sofija 1925, S. 273 ff.) geprägten Titel Bŭlgarski apokrifen letopis. Von der bulgarischen Forschung wird das Skazanie meist auf das 11.–12. Jahrhundert datiert. Erhalten ist es nur in einer späten Handschrift serbischer Redaktion aus dem mazedonischen Kloster Kičevo. Die Handschrift galt lange als verschollen, wurde von Anatolij Turilov ‚wiederentdeckt‘ und befindet sich heute im Staatlichen Historischen Museum in Moskau (GIM, Chludov 123). Turilov hat die erste vollständige Beschreibung des reichhaltigen Textbestandes des Kičevskij sbornik verfasst, die Handschrift auf den Anfang des 17. Jahrhunderts datiert und ihre Geschichte beschrieben (Palaeobulgarica 19 [1995], 4, S. 2 ff.).

Im ersten Kapitel stützt sich Biljarski bei der Darstellung der Geschichte der Handschrift und der Stellung des Skazanie im konvoj weitgehend auf Turilovs Befund. Danach ist die Handschrift in einem serbischen, von russischem Einfluss geprägten Klostermilieu entstanden, die weitere Verbreitung war auf Mazedonien beschränkt. Er schließt sich Turilovs These an, dass das Skazanie im konvoj isoliert sei, sich außerhalb seines eigentlichen literarischen Kontextes befinde. Besonders hervorzuheben ist, dass am Ende des Kapitels die erste, auf Photoaufnahmen der Handschrift beruhende Neuedition (diplomatischer Abdruck) präsentiert wird, mit kurzen Kommentaren und einer von Kiril Petkov angefertigten englischen Übersetzung des Werkes. Danach folgt das Faksimile. Das zweite Kapitel bringt eine von polemischem Schwung getragene Auseinandersetzung mit einigen verbreiteten, in jüngster Zeit zunehmend kritisch betrachteten Interpretationen Dies sind die „patriotische“ Lesart des Skazanie, seine Zuordnung zur häretischen Literatur (Bogomilen) und die „positivistische“ Methode mit ihren Versuchen, die konfuse Darstellung von Ereignissen und die schwer entzifferbare Prosopographie auf realhistorische Grundlagen zurückzuführen. Biljarski betont mit Nachdruck, dass es sich um einen eschatologischen Text in der Tradition biblischer prophetischer sowie nichtkanonischer Texte und um eine Kompilation aus unterschiedlichen Quellen, griechischen und bulgarischen, unterschiedlicher Epochen handelt. Von dieser Position her kritisiert er die bisherige Forschung. Nach der „patriotischen“ Lesart wollte der anonyme Autor das Gedächtnis der bulgarischen Identität und Staatlichkeit in der Epoche der byzantinischen Herrschaft wach halten. Biljarskij antwortet mit dem Nachweis, dass der Text die auf das Christentum gegründete Einheit und Ununterscheidbarkeit des bulgarischen und griechischen Reiches hervorhebt. Konkret nachgewiesen hat das schon 1993 Strašimir Dimitrov in seinem Aufsatz über die apokryphe Chronik und die ethnische Geschichte der Bulgaren (Études balkaniques 29 [1993], 4, S. 97 ff.), den Biljarski nicht erwähnt. Den Kompilator des Skazanie ordnet Biljarski zu Recht einem Milieu fern von Hochkultur und offizieller Geschichtsschreibung zu. Zu begrüßen sind seine auf die neuere Forschung gestützten Überlegungen für eine spätere Datierung. Er spricht sich für das 13. oder auch für das 14.–15. Jahrhundert aus und begründet das unter anderem mit möglichen Interpolationen und der Offenheit des Textes, dem ein klares Ende zu fehlen scheine.

Biljarski geht davon aus, dass das Skazanie trotz seines kompilativ-fragmentarischen Charakters ein homogenes Ganzes mit einer einheitlichen ideologischen Botschaft bildet: Konstruktion und Bewahrung einer christlichen bulgarischen Identität und einer darauf begründeten „ideology of power“. In diesem Sinne wird in den Kapiteln 3–5 eine grundlegende Neuinterpretation der Erzählung entwickelt. Das sechste und letzte Kapitel (Kings and their names) ist auch ein Beitrag zur historischen Identifikation von Herrscherfiguren, das Hauptinteresse gilt aber ihrer Bedeutung als (nach biblischen und anderen Traditionen konstruierte) ideologische Charaktere. Die Neuinterpretation in den vorangehenden Kapiteln erfolgt durch die systematische Offenlegung und typologische Rekonstruktion der die Geschichtserzählung des Skazanie bestimmenden biblischen „Modelle“, Archetypen, Identitäts- und Herrschaftskonzeptionen. Im dritten Kapitel werden die paradigmatische Gestalt des Propheten Jesaja und die Topoi des Gelobten Landes, des Auserwählten Volkes, des Neuen Israel und des Neuen Jerusalem im biblischen Kontext und in ihrer mittelalterlichen Rezeption bis hin zur bulgarischen analysiert. Als sakralen Kontext für die Herrscherporträts des Skazanie, die die Rolle der Herrscher als Städtegründer besonders herausstellen, führt Biljarski die Erzählungen von den Patriarchen und Propheten im Alten Testament an. Ausgewählte Herrscherfiguren werden durch die Konstruktion biblischer Modelle von Herrschaft interpretiert, so im vierten Kapitel die Herrschaft des legendären Izot durch das Davidische Modell („Davidic royalty“) und im fünften Kapitel die Herrschaft des Ispor (Isperich) und des heiligen Kaisers Konstantin, den das Skazanie mit Konstantin Porphyrogennetos ‚verwechselt‘, durch das mosaische Modell („Mosaic model“, „Moses-Constantine Typology“). Biljar­ski räumt ein, dass die Mehrheit der biblischen Topoi und Archetypen im Skazanie nur implizit, als Spuren („traces“, „indications“), greifbar ist, und er hebt auch deutlich hervor, dass ein eschatologischer Text wie das Skazanie mit seiner verworrenen Geschichtserzählung keine ausformulierte Herrschaftskonzeption präsentiert. Er hat mit dieser ersten speziell dem Skazanie gewidmeten Monographie eine umfassende kritische Bilanz der Forschung vorgelegt, die seit langem fällig war, und eine stabile Basis für die künftige Forschung und die Beantwortung der noch offenen Fragen (Datierung, Quellen, Autor) geschaffen.

Wolf-Heinrich Schmidt, Berlin

Zitierweise: Wolf-Heinrich Schmidt über: Ivan Biliarsky: The Tale of the Prophet Isaiah. The Destiny and Meanings of an Apocryphal Text. Leiden [etc.]: Brill, 2013. XI, 310 S., 6 Abb. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 23. ISBN: 978-90-04-21153-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt_Biliarsky_The_Tale_of_the_Prophet_Isaiah.html (Datum des Seitenbesuchs)

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