Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 52 (2014), 4, S. 612-613

Verfasst von: Jürgen W. Schmidt

 

Aleksandr B. Astašov: Propaganda na russkom fronte v gody Pervoj mirovoj vojny. [Propaganda an der russischen Front während des Ersten Weltkriegs]. Avtor, sostovitel, podgotovka k pečati A.B. Astašov. Moskva: Speckniga, 2012. 399 S. ISBN: 978-5-91891-230-0.

Jenes in der kleinen Auflage von 500 Exemplaren erschienene Buch des russischen Historikers Astašov besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil, ein Aufsatz von reichlich 80 Seiten, beinhaltet eine aktengestützte Analyse der Propaganda an den russischen Fronten des Ersten Weltkriegs, die Kaukasusfront gegen die Türken inklusive. Die Propaganda beim Gegner mit Flugblättern und Flugschriften oblag dabei den vom russischen militärischen Nachrichtendienst gesteuerten Aufklärungsabteilungen der einzelnen russischen Fronten und Armeen. Hier finden sich als leitende Persönlichkeiten viele aus der Vorkriegszeit gut bekannte russische Nachrichtendienstler bzw. ehemalige Militärattachés. Die Propaganda war vor allem auf die slawischen Bevölkerungsteile und Soldaten Österreich-Ungarns ausgerichtet, wobei man besonders auf die Tschechen, Ruthenen und Polen zielte. Nach entsprechenden Informationen der russischen Militärattachés in neutralen Ländern wie der Schweiz und Schweden glaubte man ganz ernsthaft, dass sich beispielsweise in den von Tschechen bewohnten Gebieten der Doppelmonarchie 90 % der Bevölkerung inklusive der Verwaltungsbehörden problemlos mit einer russischen Besetzung abfinden und sich den Russen willig unterordnen würden. Daneben gab es, wenn auch in wesentlich geringerer Anzahl, Flugblätter auf Deutsch und Ungarisch, welche allerdings bei den Zielgruppen in Österreich-Ungarn kaum auf Widerhall stießen. Umgekehrt zeigte man sich in Russland gegenüber gegnerischer Propaganda sehr aufgeregt und verletzlich und reagierte deshalb mit harten Repressalien. So wurde am 20. Februar 1915 ein mit drei an russische Soldaten gerichteten Proklamationen in der Tasche gefangengenommener Leutnant Lewinski vom 9. österreichischen Infanterieregiment nach einem entsprechenden Urteil eines russischen Kriegsgerichts erschossen, und die beiden Oberkommandierenden der russischen 4. und 8. Armee, General Ėvert und General Brusilov, verboten ihren Unterstellten ganz nachdrücklich, Parlamentäre der Gegenseite zu empfangen. Für die Erzielung einer kämpferischen Stimmung unter den eigenen Soldaten setzte man in der russischen Armee erfolgreich bewegliche Feldkinos ein, und es wurden spezielle Propagandafilme, z.B. über die Eroberung von Erzerum und Trapezunt, aber auch über „deutsche Scheußlichkeitenund über das Leben österreichischer Kriegsgefangener in Russland, gedreht und gezeigt. Diese Maßnahmen kamen bei den fast noch zu 50 % analphabetischen Soldaten im russischen Militärdienst gut an, auch wenn man gemäß den Erfahrungen des Russisch-Japanischen Krieges 1904/05 im weiteren Kriegsverlauf zunehmend spezielle militärische Frontzeitungen für die Mannschaftsdienstränge der russischen Armee erscheinen ließ.

Gegenüber Deutschland war die russische Propaganda nach Einschätzung Astašovs schwach und vor allem passiv. Man beschränkte sich fast nur darauf, deutsche Behauptungen in einschlägigen Propagandaschriften für russische Soldaten mehr oder weniger überzeugend zu widerlegen. Fühlbar dürfte für die deutsche (wie auch österreichische) Armee nach Meinung des Verfassers nur die slawophile Propaganda gewesen sein, welche vor allem in den ersten Kriegsmonaten auf die Soldaten polnischer Nationalität abzielte. Die deutsche wie österreichische militärische Propaganda zielte dagegen immer wieder wirkungsvoll auf die bekannten, riesigen Versorgungslücken der russischen Armee, indem man Überläufern in Flugblättern für jedes mitgebrachte Gewehr eine Geldprämie zwischen 6 und 7 Rubeln nebst einer Kopeke für jede ausgehändigte Gewehrpatrone versprach und mit der guten Versorgung der Russen in deutscher Gefangenschaft prahlte. Auch in anfangs neutralen Ländern war die Propaganda des russischen militärischen Nachrichtendienstes unter Einsatz einheimischer Slawophiler sehr aktiv, vor allem in Bulgarien. In den Ländern Europas und weltweit teilten sich das russische Außenministerium und das russische Kriegsministerium die Propagandaaufgaben unter mehr oder weniger großen behördlichen Reibungen. Neben gefunkten Nachrichten erwiesen sich hier mit russischem Geld subsidierte Nachrichtenagenturen, etwa die zu einer gewissen Bekanntheit nebst großer Wirksamkeit gelangte AgenturNord-Süd“, von Gewicht, deren Nachrichten von vielen neutralen, aber auch Entente-Zeitungen, ja sogar von mehreren deutschen Zeitungen regelmäßig abgedruckt wurden. Allerdings machten sich mitunter harsche Zensurbestimmungen russischer Militärbehörden hemmend bemerkbar, z.B. als nach einer Ankündigung des bevorstehenden Russlandbesuchs des englischen Kriegsministers Kitchener dieser mit seinem Kreuzer zufällig in eine deutsche Minensperre geriet und sank und sein Tod der Geschwätzigkeit der AgenturNord-Südzugeschrieben wurde.

Der zweite Teil des Buches besteht aus einer Textsammlung russischer Flugblätter, geordnet nach den nationalen Zielgruppen auf der Gegenseite, sowie den Texten deutscher, österreichischer und türkischer Flugblätter, bestimmt für die russischen Soldaten. Ob manche von russischen Sozialdemokraten herrührende und bei diesen während Wohnungsdurchsuchungen gefundene Flugblätter, die sich an russische Soldaten und die russische Bevölkerung wandten, in dieses der rein militärischen Propaganda an der Front gewidmete Buch gehören, möchte der Rezensent bezweifeln. Auch ob die vielen Syntax- und Druckfehler in den deutschen Texten der Flugblätter schon im seinerzeitigen Original vorhanden waren oder sich speziell in diese Buchausgabe einschmuggelten, wäre interessant zu wissen. Aleksandr Astašov hat sich jedenfalls mit einem bislang kaum untersuchten Thema zum Ersten Weltkrieg befasst, wobei er insbesondere für seine Quellensammlung an einschlägigen Flugblättern unseren Dank verdient.

Jürgen W. Schmidt, Berlin

Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: Aleksandr B. Astašov: Propaganda na russkom fronte v gody Pervoj mirovoj vojny. [Propaganda an der russischen Front während des Ersten Weltkriegs]. Avtor, sostovitel’, podgotovka k pečati A.B. Astašov. Moskva: Speckniga, 2012. 399 S. ISBN: 978-5-91891-230-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt_Astasov_Propaganda_na_russkom_fronte.html (Datum des Seitenbesuchs)

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