Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 3, S. 515-516

Verfasst von: Michael Schmidt-Neke

 

Isabel Ströhle: Aus den Ruinen der alten erschaffen wir die neue Welt! Herrschafts­praxis und Loyalitäten in Kosovo (1944–1974). München: De Gruyter Olden­bourg, 2016. 424 S., 18 Abb., 19 Tab., 2 Graph. = Südosteuropäische Arbeiten, 155. ISBN: 978-3-11-046160-2.

Die westliche Literatur über Kosovo ist kaum noch zu überschauen, in einer Bandbreite zwischen politischen Bekenntnisschriften für und wider den deutschen Kriegseinsatz über die Erlebnisberichte von Akteuren auf allen Ebenen bis hin zu völkerrechtlichen Analysen des Konflikts und der Unabhängigkeitserklärung.

Auf der Strecke blieb dabei die zeitgeschichtliche Rückschau auf die Entwicklung nach 1944 und damit die Frage, ob der unter sozialistischen Vorzeichen restaurierte Staat mit dem Programmnamen „Land der Südslawen“, dessen Hymne mit „Auf, ihr Slawen!“ begann, eine Chance hatte, eine starke nichtslawische Minderheit mit einem weitgehend kompakten Siedlungsgebiet so zu integrieren, dass diese sich nicht als Fremdkörper oder gar als Opfer von Fremdherrschaft sah.

Zwei Narrative stehen sich in Kosovo gegenüber: das der Albaner, sie seien seit der Eroberung Kosovos durch die Serben im Ersten Balkankrieg einer ständigen Unterdrückung und Entrechtung bis hin zum Völkermord ausgesetzt gewesen, und das der Serben, die Albaner hätten sich regelmäßig als islamisch-reaktionäres Element mit Jugoslawiens Feinden verbündet und mit allen Mitteln die Serben aus ihrem historischen Kernland vertrieben.

Die Autorin begrenzt den Untersuchungszeitraum auf die Jahre 1944, in dem Jugoslawien in seinen Vorkriegsgrenzen wiederhergestellt wurde, und 1974, in dem die neue Bundesverfassung die Stellung Kosovos entscheidend aufwertete. Sie hält damit Abstand vom Zerfall Jugoslawiens in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Sie fragt nach den Strategien, welche die jugoslawische Staatsmacht einsetzte, um ihre Legitimität mit der Loyalität der Albaner im Sinne von „bratstvo – jedinstvo“ zu untermauern. Dabei steht neben der Politik auf den verschiedenen Ebenen (Föderation, Republik, Provinz) deren soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umsetzung im Mittelpunkt.

Ausgangspunkt ist die Schwäche der kosovo-albanischen Beteiligung am Partisanenkrieg. Wegen der durchweg negativen Erfahrungen der Albaner unter der Monarchie empfanden sie die Vereinigung mit dem italienisch besetzten Albanien 1941 als Befreiung und hatten keinerlei Interesse an einer Rückkehr zu Jugoslawien. Tito musste die Wiederherstellung der Vorkriegsgrenzen durchsetzen, weil er zwar die wenigen albanischen Partisanen enttäuschen konnte, nicht aber die Serben, die sich von ihm abgewendet hätten, wenn er zugunsten Albaniens auf Kosovo verzichtet hätte. Das Ergebnis waren Kämpfe der Partisanen untereinander und Massenerschießungen von zwangsrekrutierten Albanern. Die Ereignisse von 1945 waren ein denkbar schlechter Start in eine gemeinsame Zukunft.

In den folgenden Jahren wurde wenig Zuckerbrot, aber sehr viele Peitschen eingesetzt, um die Loyalität der Albaner zu erzwingen. Sie blieben, obwohl sie die Bevölkerungsmehrheit stellten, in Verwaltung, Partei und Staatssicherheit (UDBA) unterrepräsentiert. Die wirtschaftliche Rückständigkeit und das geringe Konsumniveau Kosovos gegenüber den anderen Republiken und Provinzen verschärften sich zunächst, weil der Staat hier nur sehr wenig investierte. Die Zahl der Arbeiter nahm zwar zu, wie es politisch gewünscht war, aber viele mussten gleichzeitig nebenher in der Landwirtschaft tätig bleiben. Der Lebensstandard auf dem Land blieb niedrig; noch 1973 war das Radio das einzige Gut des gehobenen Konsums, das in nennenswertem Maß (nur 22 %) in bäuerlichen Haushalten vorhanden war. Die langsame Urbanisierung ging mit einer „Rurbanisierung“ einher: die Stadtbevölkerung änderte nicht ihre Lebensweise, sondern brachte ihre traditionelle ländliche Lebenskultur in die Stadt mit. Es gelang dem Bund der Kommunisten nicht, das System der familiären Netzwerke aufzubrechen, das nicht nur die albanische Gesellschaft in Kosovo bis heute prägt.

Entschleierung und eine Bildungsoffensive gehörten zu den positiven Initiativen des Staates, doch angesichts der hohen Kinderzahl mangelte es an Schulgebäuden, Ausstattung und qualifizierten Lehrkräften. Auch tertiäre Bildungseinrichtungen wurden geschaffen, doch bis zur Gründung der Universität Prishtina dauerte es noch bis 1969/70. Das Dilemma des Staates lag darin, entweder den jungen Bürgern in Kosovo den Zugang zu höherer Bildung an ihrem Wohnort vorzuenthalten und so die Unzufriedenheit wachsen zu lassen, oder eine akademisch gebildete Generation zu enttäuschen, weil ihre Erwartungen an Arbeitsplätze, die ihrer Qualifikation entsprachen, nicht befriedigt werden konnten.

Der Wendepunkt kam 1966 mit dem „Brioni-Plenum“ der Parteiführung, auf dem der langjährige Innenminister Aleksandar Ranković entmachtet wurde. Damit hatte man einen Sündenbock, auf den man alle Fehler der Vergangenheit („Deformationen“) bequem abwälzen konnte.

Ein Schwerpunkt der Analyse liegt auf dem Agieren der UDBA, deren menschenrechtswidrige Praktiken sich nicht von denen anderer kommunistischer Inlandsgeheimdienste unterschied. Strafprozesse gegen UDBA-Mitarbeiter wurden in Kosovo zum nationalen Zankapfel zwischen denen, die sich nach Brioni mehr Freiheit erhofft hatten, und denen, die das Vorgehen der UDBA als legitime Verteidigung des Staates rechtfertigten.

Der serbisch-albanische Gegensatz bestimmte die Diskussion um eine neue Bundesverfassung. Angesichts der Bevölkerungszahlen war schwer zu vermitteln, warum Montenegro eine der sechs Teilrepubliken war, während Kosovo mit fast dreimal so vielen Bürgern eine Autonome Provinz innerhalb Serbiens bleiben sollte. Serbien lehnte eine Aufwertung Kosovos zur Republik strikt ab, weil es eine Sezession fürchtete. Viele Albaner waren mit jeder Lösung unterhalb des Republikstatus unzufrieden. Sie sahen sich erneut zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, die keine Nation (narod), sondern nur eine Nationalität (narodnost) seien, die bereits ihren Nationalstaat nicht innerhalb Jugoslawiens, sondern in Albanien habe.

Die Studentenrevolte von 1968, die in Prishtina eine stärker nationale Agenda hatte als die in anderen jugoslawischen Hauptstädten, war Ausdruck einer sozialen Modernisierung. Sie war aber auch ein Beleg dafür, dass die erheblichen Konzessionen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre nicht ausreichten, um die Loyalität der Kosovo-Albaner zum jugoslawischen Staat herzustellen. Denn die Schere zwischen Kosovo und dem übrigen Jugoslawien, was Lebensstandard und wirtschaftliche Entwicklung angeht, schloss sich nicht – sie wurde im Gegenteil immer weiter. Eine Idealisierung Albaniens und Enver Hoxhas griff um sich. Tito galt aber auch für viele junge Albaner als Hoffnungsträger; bei den Demonstrationen gab es sowohl Hochrufe auf Hoxha wie auf Tito.

Die kosovarischen Albanologen unterstützten den auf einer Konferenz in Tirana 1972 vereinheitlichten Sprachstandard, obwohl dieser weit stärker auf dem südalbanischen Toskisch als auf dem nordalbanisch-kosovarischen Gegisch basierte, um sich gegen Versuche von serbischer Seite zu positionieren, zwei unterschiedliche albanische Völker, die albanci in Albanien und die šiptari in Jugoslawien, zu konstruieren.

Isabel Ströhle stützt sich auf breites Archivmaterial aus Belgrad und Prishtina; besonders die Arbeit in der kosovarischen Hauptstadt muss sehr mühsam gewesen sein. Sie zieht Zeitungen und Fachpresse und natürlich die gesamte erreichbare Literatur hinzu. (Die 2011 auf Deutsch erschienenen Erinnerungen von Arif Demolli über seine Kindheit sind ihr leider entgangen.)

Im Ergebnis ist der Autorin eine hervorragende Arbeit gelungen, von der ich mir wünsche, dass sie sowohl in Serbien wie in Kosovo zur Kenntnis genommen wird.

Michael Schmidt-Neke, Kiel

Zitierweise: Michael Schmidt-Neke über: Isabel Ströhle: Aus den Ruinen der alten erschaffen wir die neue Welt!. Herrschaftspraxis und Loyalitäten in Kosovo (1944–1974). München: De Gruyter Oldenbourg, 2016. 424 S., 18 Abb., 19 Tab., 2 Graph. = Südosteuropäische Arbeiten, 155. ISBN: 978-3-11-046160-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt-Neke_Stroehle_Aus_den_Ruinen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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