Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 3, S. 445-446

Verfasst von: Cornelia Schlarb

 

Olga Kurilo: Die Lebenswelt der Russlanddeutschen in den Zeiten des Umbruchs (1917–1991). Ein Beitrag zur kulturellen Mobilität und zum Identitätswandel. Essen: Klartext, 2010. 437 S., 24 Abb., Graph. = Migration in Geschichte und Gegenwart, 5. ISBN: 978-3-8375-0243-5.

In ihrer 2008 als Habilitationsschrift an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder angenommenen historisch-anthropologischen Forschungsarbeit beschäftigt sich Olga Kurilo mit der kulturellen Mobilität und dem Identitätswandel der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert. Kulturelle Mobilität versteht sie als Anpassung von Einzelnen, Gruppen oder einer gesamten Kultur an eine fremde Kultur bzw. als Bereitschaft zur Übernahme fremder Kulturelemente in die eigene Kultur und die damit verbundene Entstehung einer neuen Kulturmischung oder Hybridisierung der Ausgangskultur. Sie sucht nachzuweisen, dass die kulturelle Beweglichkeit nicht zuletzt zum Identitätswandel, zu Veränderungen im Blick auf die Sprache, den Glauben oder andere kulturbedingte Einstellungen beiträgt. Kurilo untersucht die Formen kultureller Mobilität und den Einfluss von Politik und Ideologie auf die russlanddeutsche Lebenswelt an drei markanten Schnittstellen: der Zeit nach der Oktoberrevolution, während des Zweiten Weltkriegs und nach der Perestrojka. Die Untersuchung basiert auf der Auswertung von Erinnerungsliteratur, narrativer Literatur, historischen Dokumentensammlungen sowie Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Ein Orts-, Personen- und Sachregister erleichtert das schnelle Aufsuchen einzelner Topoi.

Die Revolutionszeit von 1917 bis zur Stabilisierung der Sowjetmacht in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre war durch neue gesellschaftliche Experimente geprägt, die traditionelle Strukturen zerstörten und neue Entwicklungen einleiteten. Je nach gesellschaftlichem Stand oder Status wurden diese Maßnahmen begrüßt oder abgelehnt. Viele Russlanddeutsche versuchten zu emigrieren und zu fliehen, andere beteiligten sich an den ersten „sowjetischen Transformationsmaßnahmen“ (S. 129). Kennzeichnend für diese Jahre sind eine erhöhte Mobilität mit Blick auf den Wohnort sowie eine stärkere soziale Mobilität als in früheren Jahren. Die anfängliche Nationalitätenpolitik der Sowjetmacht ermöglichte den Aufbau der Deutschen Autonomen Wolgarepublik und ließ deutsche Schulen, Presse und Literatur wieder aufleben. Kontakte zu reichsdeutschen kommunistischen Pionieren und Sympathisanten stärkten die deutsche Identität, während die Anpassung an die neuen Verhältnisse eine „sowjetische Identität“ (S. 130) begünstigten.

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs prägten vor allem die Zwangsdeportationen, von denen etwa zwei Drittel aller Russlanddeutschen betroffen waren, und der Kampf ums nackte Überleben. Die Zerstörung bisheriger Sozialstrukturen (Dorfgemeinschaft, Familie) und das Feindbild als Deutsche unterbrachen die Weitergabe kultureller Tradition und trugen zum Verlust deutscher Identität bei, indem die deutschen Wurzeln verschwiegen und Assimilationen an das russische Umfeld vollzogen wurden. Während des Krieges konnte deutsches Kulturleben nur im Verborgenen, im privaten Raum und in begrenzten Milieus gelebt werden.

Die Perestrojka ermöglichte es, sich wieder öffentlich und angstfrei zu deutscher Herkunft und Identität zu bekennen und für Rehabilitationsmaßnahmen einzutreten. Angehörige der älteren Generation plädierten für eine Rückkehr zu nationalen Traditionen (Festkultur, Religion, Sprache) und setzten sich z.T. für die Wiedererrichtung der Autonomen Wolgarepublik ein. Angehörige der mittleren Generation, die in der russischen Kultur und Sprache stärker beheimatet sind, ziehen es vor, „bikulturell“ (S. 207) zu bleiben. Russlanddeutsche Differenzen um die zu errichtende Wolgarepublik, deren zunehmende Ablehnung seitens der russischen Bevölkerung und die Verschlechterung der Lebensverhältnisse favorisierten die Auswanderung nach Deutschland als ultima ratio.

Russlanddeutsche Kultur kann von Anfang an als eine Hybridkultur verstanden werden, die „deutsch-deutsche, deutsch-russische, deutsch-sowjetische und deutsch-nichtrussische Mischungen und Interferenzen von Kulturelementen“ (S. 284) umfasst. Die Entwurzelung Russlanddeutscher in der Sowjetzeit, insbesondere im Zweiten Weltkrieg, beschleunigte diese Hybridisierung, die das Charakteristikum ihrer Identität ausmacht. Der Identitätswandel der Russlanddeutschen weist ein Gefälle auf, das vom Verlust deutscher Kulturelemente hin zur Aufnahme russischer kultureller Merkmale in der Sprache, in den Vorstellungen von Heimat oder in der Selbstwahrnehmung geprägt ist. Dieser Identitätswandel lässt sich stets als Reaktion auf die veränderten politischen und kulturellen Voraussetzungen beschreiben. Die beispielhafte Anpassungsfähigkeit der Russlanddeutschen, das Ergebnis ihrer kulturellen Mobilität, führte letzten Endes zur Ausformung einer transnationalen Identität, die die Zugehörigkeit zu zwei Kulturkreisen für sich beansprucht.

Angesichts assimilatorischer Prozesse, die sowohl in Russland als auch in Deutschland zu beobachten sind, fragt Kurilo, ob die russlanddeutsche Mischkultur, die sich durch Mehrsprachigkeit und eine Doppelidentität auszeichnet, künftig erhalten werden kann. Dieser gut fundierten, aktuellen Studie ist eine breite Rezeption zu wünschen.

Cornelia Schlarb, Ebsdorfergrund

 

Zitierweise: Cornelia Schlarb über: Olga Kurilo: Die Lebenswelt der Russlanddeutschen in den Zeiten des Umbruchs (1917–1991). Ein Beitrag zur kulturellen Mobilität und zum Identitätswandel. Essen: Klartext, 2010. 437 S., 24 Abb., Graph. = Migration in Geschichte und Gegenwart, 5. ISBN: 978-3-8375-0243-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schlarb_Kurilo_Lebenswelt_der_Russlanddeutschen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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