Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 291-292

Verfasst von: Michael Schippan

 

Andreas Renner: Russische Autokratie und europäische Medizin. Organisierter Wissenstransfer im 18. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner, 2010. 373 S., 9 Tab. = Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Beihefte, 34. ISBN: 978-3-515-09640-9.

In der Regierungszeit des Zaren Aleksej Michajlovič waren bereits zahlreiche Ärzte vor allem aus dem deutschsprachigen Raum nach Russland gelangt, worüber Sabine Dumschat („Ausländische Mediziner im Moskauer Russland“, 2006) geschrieben hat. Nach 1700 sorgten die Bedürfnisse der unter Peter I. geschaffenen, nahezu pausenlos in Marsch gesetzten regulären Armee sowie der Kriegsflotte für die Einrichtung zentraler Behörden für das Medizinalwesen im Zarenreich. Die mit den aufklärerischen Lehrsätzen von einer „medizinischen Policey“ vertraute Kaiserin Katharina II. betrachtete die Einführung einer breiten ärztlichen Versorgung der Bevölkerung als Bestandteil ihrer zivilisatorischen Mission, wie Andreas Renner in dieser Monographie, einer überarbeiteten Kölner Habilitationsschrift, zeigt. Er wertete in vier Archiven St. Petersburgs und Moskaus aufbewahrte Akten der zentralen Medizinalbehörden (Examensprotokolle, Etats), des Senats (Berichte von Gouverneuren), des Synods und der Akademie der Wissenschaften aus. Zeitgenössische Drucke, wie die Schriften des Straßburger Mediziners Johann Friedrich Erasmus (gest. 1777), des Begründers der ersten Hebammenschule in Moskau 1757, wurden ebenso herangezogen wie die russische medizingeschichtliche Literatur und Vergleichsmaterial über die Entwicklung in anderen Ländern. Der Autor sammelte biographische Angaben über Hunderte in Russland tätige Mediziner, die zunächst im Ausland und zunehmend auch an einheimischen Einrichtungen ausgebildet wurden.

Die staatlich examinierten Ärzte, die über ihren in der Rangtabelle zugeschriebenen sozialen Status wachten, suchten sich von der als „Aberglaube“ abqualifizierten Volksmedizin abzugrenzen, die sich allerdings anhaltender Nachfrage erfreute. Die professionelle Überlegenheit der Akademiker über die Heilmethoden der konkurrierenden Laienheiler (znachari) und „weisen Frauen“ aus dem Volk wurde allerdings angesichts der vielfach unbefriedigend gebliebenen ärztlichen Praxis nicht allgemein anerkannt. Wie bereits E. B. Smiljanskaja gezeigt hat – hinzuweisen ist noch auf ihre Monographie Vol’šebniki. Bogochul’niki. Eretiki. Moskva 2003 – bedienten sich auch Angehörige besonders vornehmer adliger Geschlechter ohne Bedenken der Magie von „Wunderheilern“. Weit verbreitet war die volksreligiöse Vorstellung von „Unreinheit“ als Ursache für Erkrankungen. Die akademisch gebildeten Ärzte erschufen die erst im 18. Jahrhundert in Russland nachweisbare Figur des „Scharlatans“, der als Schwindler entlarvt wurde. Andreas Renner wendet sich den handschriftlich überlieferten Berichten über den zuvor schon von A. Henning untersuchten Augenarzt Joseph Hilmer zu, dessen handwerkliche Fehler aufgedeckt und der des Landes verwiesen wurde. Die letztmals in Europa 1770/71 ausgebrochene Pestepidemie, die in der Provinz Moskau an die 100.000 Todesopfer forderte, sollte eine Bewährungsprobe für die staatlich gelenkten seuchenpolizeilichen Maßnahmen darstellen, die in 21 Druckschriften öffentlich diskutiert wurden. Die Untersuchungen von J. T. Alexander und M. Dinges über Feindseligkeiten der aufgebrachten Bevölkerung gegenüber den ausländischen Ärzten in Moskau setzt der Autor auf einer breiteren archivalischen Quellengrundlage fort. Nachdem auch in Russland die „Volksaufklärung“ eingesetzt hatte, die die Lesekundigen zu erreichen suchte, ist in der zweiten Jahrhunderthälfte eine Zunahme an medizinischer Literatur, die zur Verbesserung der öffentlichen Hygiene und der individuellen Gesundheitsfürsorge riet, unverkennbar. Wenn seitdem die Heilkraft der russischen banja europaweit gepriesen wurde, bedeutete dies eine partielle Integration ursprünglich volksmedikaler Praktiken in das Arsenal der Behandlungsmethoden der gelehrten Ärzte. Wie kaum anders zu erwarten, konnten im 18. Jahrhundert die Bewohner des ausgedehnten Reiches noch längst nicht ausreichend medizinisch versorgt werden. 1801 gab es bei einer Gesamtbevölkerung von 38,8 Millionen Menschen und 379.000 Militärs etwa 1500 Ärzte, von denen nur die Hälfte für die Behandlung der Zivilbevölkerung zuständig war (vgl. S. 69).

Ein Blick in das benachbarte Königreich Polen, das zum „lateinischen Europa“ gerechnet wird, lässt deutlich werden, dass es in Russland vor allem die Bedürfnisse des Militärs als wichtigster überregional organisierter Kraft in Krieg und Frieden waren, durch die die Herrscher und ihre Berater Reformen im Medizinalwesen initiierten. Ganze Regionen in Polen waren ebenso medizinisch unterversorgt wie im Zarenreich, Epidemien und Alkoholismus dezimierten die Bevölkerung, nur 600 Doktoren wurden in 150 Jahren promoviert, und ein Bader kam auf 3000 Einwohner (vgl. V. Piotrowski: Medycyna polska epoki kontrreformacji 1600–1764. Jawor 1996, S. 211–212). Die quellengesättigte Studie von Andreas Renner lässt deutlich werden, dass das Medizinalwesen in Russland im Verhältnis zum übrigen Europa nicht besonders „rückständig“ war; dort kam es ebenso zu einem „Wissenstransfer“ zwischen den Ländern in verschiedene Richtungen wie im 18. Jahrhundert von West nach Ost. Das Zarenreich habe sich in einer vergleichbaren Situation wie eineinhalb Jahrhunderte später Japan befunden, „das unter dem Primat der Konkurrenzfähigkeit aus pragmatischen Gründen einen gezielten und selektiven Wis­sens­transfer in Gang setzte“ (S. 43).

Michael Schippan, Wolfenbüttel

Zitierweise: Michael Schippan über: Andreas Renner: Russische Autokratie und europäische Medizin. Organisierter Wissenstransfer im 18. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner, 2010. 373 S., 9 Tab. = Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Beihefte, 34. ISBN: 978-3-515-09640-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schippan_Renner_Russische_Autokratie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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