Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 129-130

Verfasst von: Michael Schippan

 

Gerda S. Panofsky: Nikolai Mikhailovich Karamzin in Germany. Fiction as facts. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 181 S., 33 Abb. = Opera Slavica. Neue Folge, 52. ISBN: 978-3-447-06118-6.

Nikolaj Michajlovič Karamzin (17661826) war als Schriftsteller, Dichter, Publizist und Übersetzer sowie seit 1803 als Geschichtsschreiber für mehrere Jahrzehnte eine herausragende Persönlichkeit der russischen Kultur. Seine Lebensumstände sind jedoch nicht für alle Phasen ausreichend geklärt. Durch den Brand von Moskau 1812 und mehrere Aussonderungen wurde seine schriftliche Hinterlassenschaft dezimiert. Die achtzehnbändige Gesamtausgabe der Werke Karamzins (Moskau 19982009) bietet zwar selten gewordene Texte, ist jedoch nicht quellenkritisch, und die Kommentare können nicht befriedigen. Die letzte umfassende Biographie legte 1866 der Historiker M. P. Pogodin vor, der ihn noch persönlich kannte. Mit der Zeit bis zur Ernennung des Schriftstellers zum Reichshistoriographen durch den Zaren Alexander I. 1803 befassten sich bisher vorrangig Literaturwissenschaftler wie Ju. M. Lotman, N. D. Kočetkova und A. G. Cross sowie in Deutschland Hans Rothe in seiner Monographie: N. M. Karamzins europäische Reise. Der Beginn des russischen Romans (1968). Der Erforschung seiner Istorija gosudarstva Rossijskogo („Geschichte des russischen Staates“)  widmeten sich Historiker (S. O. Šmidt, V. P. Kozlov, V. Ju. Afiani), deren Moskauer wissenschaftliche Neuedition des Werkes 1998 allerdings vorläufig eingestellt wurde.

Seit der Monographie des Literaturwissenschaftlers V. V. Sipovskij 1899 über die Reise Karamzins nach Deutschland, in die Schweiz, nach Frankreich und England 1789/1790 ist zwischen der von dem Schriftsteller geschaffenen fiktiven, literarischen Gestalt des neugierigen „russischen Skythen“ sowie dem realen Reisenden Karam­zin zu unterscheiden, deren Routen und Erlebnisse nicht immer übereinstimmten. In ihrer wissenschaftlichen Ausgabe der 1791 bis 1801 erschienenen „Pis’ma russkogo putešestvennika“ („Briefe eines russischen Reisenden“; im Folgenden: PRP) von 1984 haben die Herausgeber Ju. M. Lotman, N. A. Marčenko und B. A. Uspenskij vor allem den Besuch im revolutionären Frankreich 1790 untersucht, während sie der Fahrt Karamzins durch deutsche Territorien lediglich auf einigen Seiten Beachtung schenkten. Es gibt nur wenige unabhängig von Karamzins späterer Schilderung in den PRP entstandene Quellen über die Reise, so dass Legenden aufkamen. So behauptete Jurij Lotman aufgrund ihm rätselhaft erscheinender Datierungen Karamzins, dieser sei schon einmal 1789 und damit insgesamt zweimal im revolutionären Paris gewesen. Svetlana Gellerman konnte 1991 diese Annahme mit Quellen zurückweisen, die Karamzins langen Aufenthalt in Genf im Winter 1789/90 belegten.

Angesichts dieser Ausgangssituation in der Forschung ist jeder neue Beitrag über Karamzins Leben, über seine Europareise und seine Begegnungen zu begrüßen. Die in den USA lebende Kunsthistorikerin Gerda S. Panofsky, die mit Erwin Panofsky (18921968) verheiratet war, begann sich 2003 in einem Spezialseminar an der Universität Princeton, New Jersey, mit Karamzin zu beschäftigen. Sie besuchte Archive in Berlin und Potsdam und berichtet in ihrem Buch in einer Auswahl über Reisestationen des Schriftstellers in deutschsprachigen Territorien: Danzig, Berlin, Leipzig, Weimar, Erfurt, Frankfurt am Main, Darmstadt, Mannheim sowie Straßburg und Basel. Gerda Panofsky fand den Eintrag im „Neuen Berliner Intelligenz-Blatt“ vom 30. Juni 1789, wonach der „russische Lieut[nant] H [err] v. Karumsin“ (so zit. S. 81) in Berlin eingetroffen sei, wo er mit Ch. F. Nicolai, K. Ph. Moritz und K. W. Ramler zusammentraf. Die Autorin klärte die Identität des Grenadiers Schannowitz (Channowitz), der zu den dem Preußenkönig geschenkten Soldaten des Leibregiments gehörte und mit dem sich Karamzin in Potsdam auf Russisch unterhalten konnte. Mit der Frage, wer Karamzin anstelle des Freimaurers Aleksej Kutuzov (der 1797 im Berliner Schuldgefängnis sterben sollte) als Stadtführer gedient habe und von dem Schriftsteller als „der liebenswürdige D“ bezeichnet wurde, hat sich die Autorin nicht befasst. Aufgrund eines Hinweises von Karamzin kann man darauf schließen, dass dies der seit 1782 in Berlin tätige Gesandtschaftsgeistliche G. S. Dankov (gest. 1805) gewesen sein dürfte. In Berlin geriet der Russe in die Auseinandersetzungen der Aufklärer um Ch. F. Nicolai mit dem „Kryptokatholiken“, Oberhofprediger J. A. Starck, nach dem Karamzin später in Darmstadt vergeblich fragen sollte. In Leipzig folgt die Autorin mit dem russischen Reisenden den Spuren des dem „Geisterseher“ F. Schillers als Vorbild dienenden Betrügers J. G. Schröpfer. Auf Karamzins Begegnungen mit J. G. Herder und Ch. M. Wieland in Weimar folgte sein Besuch in Erfurt, wo ihn der mittelalterliche Grabstein des Kreuzfahrers Graf Ernst von Gleichen mit zwei Frauen zu seinen Seiten zur Wiedergabe einer schon von J. K. A. Musäus überlieferten Legende anregte (hierüber noch: Clemens Heithus: Unbeachtete russische Übersetzungen um 1800 aus der deutschen Literatur in: Arcadia 25 [1990], S. 241254). In Frankfurt am Main, wo Karamzin vom Sturm auf die Bastille erfuhr, nahm er wie im gleichen Jahr W. v. Humboldt und J. H. Campe die bedrückende Enge der „Judengasse“ wahr.

Dresden wird als Reisestation nicht behandelt. Sollte belegt werden können, dass sich hinter dem in den PRP verwendeten Initial seines dortigen Gastgebers „P“, dem er ein Schreiben aus Moskau überbrachte, der Rosenkreuzer Johann Samuel Petermann (17471811), Gründer der Loge „Zum goldenen Apfel“, verbarg, könnte ein weiteres Mal belegt werden, wie der Freimaurerkreis um N. I. Novikov die Reise mit Empfehlungsschreiben unterstützte. In Basel erwähnte Karamzin lediglich die dem Manufakturbesitzer Jakob Sarasin (17421802) gehörenden prachtvollen Häuser. Doch jetzt erläutert Gerda Panofsky die Bedeutung des Kreises um Sarasin, dem Lavater, Schlosser und Pfeffel, Lenz und Klinger angehörten. Über die Freundschaft zwischen Karamzin und dem Schriftsteller des „Sturm und Drang“ Jakob Michael Reinhold Lenz ist die neue, von Heribert Tommek edierte zweibändige Ausgabe von dessen „Moskauer Schriften und Briefen“ (Berlin 2007) heranzuziehen.

Schließlich bietet die Autorin erstmals einen Überblick über die bisher ermittelten, in Deutschland aufbewahrten Karamzin-Autographen. Außer einem schon 1963 veröffentlichten Brief Karamzins an Ch. M. Wieland 1789 (jetzt in Nürnberg) werden 16 Handschriften in der Sammlung Darmstädter der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz aufbewahrt, darunter Briefe an Wilhelm von Wolzogen, den Schwager Schillers, sowie Materialien, die im Zusammenhang mit der Entstehung des Geschichtswerkes von Karamzin zu sehen sind. Hier ist noch auf die unveröffentlichte Dissertation von Stefan Wolle: Der Beitrag deutscher Historiker zur Erforschung der altrussischen Geschichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1801‒1815), Berlin 1983, sowie dessen vierteilige Edition der wissenschaftlichen Korrespondenz zwischen Gustav Ewers (17791830) und Philipp Johann Philipp Krug (17641844) im „Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas“ (19841989) zu verweisen. Gerda S. Panofsky hat wertvolle Bausteine für eine noch zu schreibende Biographie des „russischen Europäers“ Nikolaj Karamzin zusammengetragen.

Michael Schippan, Wolfenbüttel

Zitierweise: Michael Schippan über: Gerda S. Panofsky: Nikolai Mikhailovich Karamzin in Germany. Fiction as facts. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. = Opera Slavica. Neue Folge, 52. ISBN: 978-3-447-06118-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schippan_Panofsky_Nikolai_Mikhailovich_Karamzin.html (Datum des Seitenbesuchs)

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