Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 115-117

Verfasst von: Frithjof Benjamin Schenk

 

Willard Sunderland: The Barons Cloak. A History of the Russian Empire in War and Revolution. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2014. XVIII, 344 S., 9 Ktn., Abb. ISBN: 978-0-8014-5270-3.

Der biographical turn hat zweifelsohne die Imperiengeschichte erreicht. Willard Sunderland, der gemeinsam mit Stephen Norris bereits 2012 den lesenswerten Band Russias People of Empire: Life Stories from Eurasia herausgegeben hat, zeigt in seinem neuen Buch das große Erkenntnispotential biografischer Forschung für die Geschichte Russlands aus imperienhistorischer Perspektive. Im Mittelpunkt der hervorragend geschriebenen Studie steht die Lebensgeschichte von Baron Roman Fedorovič von Ungern-Sternberg (1885–1921), einer schillernden und mythenumwobenen Gestalt, deren Name vor allem aus der Geschichte der Spätphase des russischen Bürgerkrieges im Fernen Osten bekannt ist. Sunderland nutzt die Biografie seines Protagonisten als Ausgangspunkt einer facettenreichen Innenschau des Russländischen Reiches, die dem Leser die Vielfalt der Regionen und Lebenswelten des Imperiums im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eindrücklich vor Augen führt. Die Wahl der Biografie Ungern-Sternbergs erweist sich dabei als echter Glücksgriff. Der Baron, der einer berühmten deutsch-baltischen Familie entstammte, hatte eine „imperiale Biografie“ (imperial life) im wahrsten Sinne des Wortes. Geboren in Graz in der Habsburgermonarchie und aufgewachsen auf einem Gut in Estland, zog es den jungen Baron in Jugendjahren nach einem Besuch in Tiflis in die Zarenresidenz St. Petersburg. Nach Startschwierigkeiten an verschiedenen Militärschulen meldete er sich als Freiwilliger in den russisch-japanischen Krieg und kam auf den Schlachtfeldern der Mandschurei in Kontakt mit der frontier-Gesellschaft an der östlichen Peripherie des Russländischen Reiches. Nach einem Aufenthalt in St. Petersburg ließ sich Ungern-Sternberg erneut zu Kosakenregimentern in der Trans-Baikal-Region und am Grenzfluss Amur versetzen. Während des Ersten Weltkrieges kämpfte er an verschiedenen Front­abschnitten – von Ostpreußen bis zur russisch-persischen Grenze. In seinen letzten Lebensjahren macht er sich als „verrückter Baron“ (mad baron) in Sibirien und im Fernen Osten einen zweifelhaften Namen. Unter Ataman Semenov kämpfte er auf der Seite der „Weißen“ gegen die Bol’ševiki, ehe ihn die Kriegswirrnisse auf mongolisches Territorium führten. Von hier aus startete er als Anführer eines Kosakenregiments sein letztes Gefecht gegen den „roten Feind“. Nach seiner Niederlage nahmen ihn die Bol’ševiki im Sommer 1921 gefangen und ließen ihn nach einem spektakulären Schauprozess in Westsibirien exekutieren.

Ungern-Sternberg war in geografischer und kultureller Hinsicht ein Grenzgänger. Er entstammte einer protestantischen Adelsfamilie, beherrschte fünf Sprachen, fühlte sich in der rauen Welt der Kosakenregimenter an der östlichen Reichsgrenze zuhause und heiratete in Harbin in einer orthodoxen Kirche eine chinesische Konvertitin. In sein obskures Weltbild nahm er buddhistische Versatzstücke ebenso auf wie antisemitische Klischees und den Glauben an eine russische imperiale Mission in Asien: Cultural in-betweenness was a common condition of imperial life.“ (S. 61) – Sunderland folgt seinem Protagonisten an alle Stationen seines bewegten Lebens. Er rekonstruiert detailliert, was unsere Quellen über Ungern-Sternberg hergeben, und benennt offen, was wir nicht wissen können. Dafür hat er in akribischer Detektivarbeit Quellenmaterial aus russischen, chinesischen, mongolischen, estnischen und österreichischen Archiven und Bibliotheken ausgewertet. Gleichzeitig widmet er jeder Lebensphase seines ‚Helden‘ ein eigenes Kapitel, wobei jeder Abschnitt mit einer ‚Spurensuche‘ am Ort des Geschehens bzw. einer detaillierten Ortsbeschreibung beginnt. Sunderland hat tatsächlich alle uns bekannten Orte des Lebens von Ungern-Sternberg persönlich bereist, von Graz im Westen bis an die Ufer des Amur im Fernen Osten. In seinem Buch stellt er diese Schauplätze der Biografie Ungern-Sternbergs als Mikrokosmen imperialer Lebenswirklichkeit vor. Die Lebenswelt des verwestlichten russländischen Adels wird ebenso detailliert und anschaulich nachgezeichnet wie die der Militärschulen in St. Petersburg. Wir lernen die russländische Armee und die Kosakenregimenter an den östlichen Reichsgrenzen als Institutionen imperialer Vergesellschaftung und individueller Sozialisation kennen und erleben die frontier als Ort der Aushandlung imperialer Macht. – Es sind solche Biografien der Vertreter der mobilen Reichselite, die uns einen panoptischen Blick auf die Vielfalt imperialer Lebenswirklichkeit im Russländischen Reich ermöglichen und zum besseren Verständnis der Kohäsionsmechanismen imperialer Ordnungen beitragen. Der durch die Lebensdaten Ungern-Sternbergs abgesteckte Untersuchungszeitraum fällt dabei mit jener Phase der Geschichte Russlands zusammen, in der sich das Vielvölkerreich den Herausforderungen des aufkommenden Nationalismus, der revolutionären Bewegung, des Krieges gegen Japan, der Revolution von 1905, des Ersten Weltkriegs und schließlich der Revolutionen von 1917 gegenübersah: In den gut dreißig Jahren seines Lebens „the tsarist world passed from possibility to extinction“. (S. 8)

Bei seiner Analyse der Kräfte, die das Russländische Reich vor 1917 zusammenhielten bzw. im Jahr der Revolutionen zerfallen ließen, schlägt sich Sunderland ins Lager der sogenannten Optimisten: Das Imperium sei Anfang des 20. Jahrhunderts alles andere als zum Scheitern verdammt gewesen, so seine These (S. 99, S. 231). Auch die nationalen Bewegungen hätten das Reich nicht im Kern bedroht (S. 129). „The Russian Empire was held together by state power, or, more often than not, by the myth of state power.(S. 149) Gescheitert sei das Imperium – wie die Reiche der Habsburger und der Osmanen – letztendlich im verlorenen Ersten Weltkrieg, wobei sein Schicksal mit dem seiner Peripherien aufs engste verflochten gewesen sei (S. 160). Hier, an den Rändern des Reiches, kämpften Männer wie Ungern-Sternberg (vergeblich) um den Erhalt der alten imperialen Ordnung. Ihr Scheitern ebnete einem neuen imperialen Projekt den Weg, das von Menschen getragen wurde, die – wie Ungern-Sternberg – einer Welt entstammten, auf welcher der „Schatten des Imperiums“ lastete. (S 233)

Sunderland hat mit seinem grandiosen Buch neue Standards in der Historiografie zum Russländischen Imperium gesetzt. Dem Band ist eine breite Leserschaft zu wünschen. Für Studierende und Doktorierende, die zur Geschichte des späten Zarenreiches arbeiten, ist es eine Pflichtlektüre!

Frithjof Benjamin Schenk, Basel

Zitierweise: Frithjof Benjamin Schenk über: Willard Sunderland: The Baron’s Cloak. A History of the Russian Empire in War and Revolution. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2014. XVIII, 344 S., 9 Ktn., Abb. = ISBN: 978-0-8014-5270-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schenk_Sunderland_Barons_Cloak.html (Datum des Seitenbesuchs)

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