Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Carmen Scheide

 

Mark Edele Soviet Veterans of the Second World War. A Popular Movement in an Authoritarian Society, 1941–1991. Oxford: Oxford University Press, 2009. XII, 334 S., Tab. ISBN: 978-0-19-923756-2.

Über das Schicksal der Millionen von Kriegsteilnehmern in der Sowjetunion und ihr Leben nach der Demobilisierung gab es bislang keine Forschungen. Jetzt hat der Historiker Mark Edele eine Pionierarbeit über die zahlreichen Veteranen vorgelegt, die einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Krieges, der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft und der Funktionsweise einer sozialen Bewegung in einer totalitären Gesellschaft darstellt. Der Verfasser studierte in Tübingen und den USA, wo er an der University of Chicago promovierte. Heute lehrt er an der University of Western Australia in Perth. Seine Herangehensweise an die heterogene Gruppe der Veteranen ist geprägt von Diskussionen über soziale Bewegungen, ihre möglichen Formierungen und Mobilisierungen, aber auch über ihre politischen und kulturellen Auswirkungen. Mark Edele geht von der These aus, dass sowjetische Veteranen eine wichtige soziale Kraft in der Nachkriegsgesellschaft bildeten, obwohl ihr sozialer Status gleich nach der Demobilisierung verschleiert und erst 1956 ein Veteranenverband (Sovetskij Komitet Veteranov Vojny, SKVV) gegründet wurde. Die offizielle ablehnende Haltung gegen eine eigene Organisation war eine Fortsetzung der Politik der Zwischenkriegszeit, als Veteranenorganisationen nach dem Bürgerkrieg durch die Bol’ševiki verboten wurden. Das Argument von Staat und Partei lautete, Veteranen stellten nach der Definition von Karl Marx keine eigenständige Klasse dar, sondern seien normale Sowjetbürger. Theoretisch baut Mark Edele in seiner Darstellung eine Gegenposition zu einer vergleichbaren Arbeit von Antoine Prost auf, der 1977 eine Studie über Kriegsveteranen des Ersten Weltkriegs in der französischen Gesellschaft zwischen 1914 und 1940 verfasst hat. Prost vertritt die Ansicht, sie seien erst durch eine eigene Organisation zu einer sozialen Gruppe geworden. Mark Edele argumentiert dagegen, sowjetische Veteranen seien durch ihre gemeinsamen Interessen unabhängig von bestehenden offiziellen Organisationsangeboten als eine eigenständige soziale Ein­heit zu betrachten. Er verwendet dafür den Begriff entitlement community, was am ehesten mit Interessensgemeinschaft übersetzt werden kann; sie strebte nach einer Verbesserung ihres sozialen Status und ihrer materiellen Versorgung. Diese Gemeinschaft war eine Massenbewegung, die nicht nur ‚von oben‘ konstituiert und angeleitet wurde, aber sich auch nicht als reine Protestveranstaltung verstand, sondern in einem dynamischen Prozess aus strategischen und taktischen Handlungen ab den siebziger Jahren zu einer fest institutionalisierten Entität der sowjetischen Gesellschaft wurde. Aufgrund ihres Entstehungsprozesses überdauerte sie den Umbruch von 1991. Seine Annahme kann Mark Edele überzeugend begründen, weshalb die Lektüre auch über das unmittelbare Thema hinaus einen anregenden und innovativen Beitrag zum Wechselverhältnis zwischen Staat und Individuen, zur Funktionsweise der sowjetischen Gesellschaft, und einen differenzierten Zugang zu Gruppen und Netzwerken leistet.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Im Ersten geht es um die Reintegration von ehemaligen Kriegsteilnehmern in ein ziviles Leben. Mark Edele zeichnet an ausgewählten Fallbeispielen Lebenswege von der Front zurück in ein ‚normales‘ Leben nach. Entgegen der Propaganda von einer glücklichen, geordneten Heimkehr, die eine soziale Statuserhöhung versprach, herrschten bei der Demobilisierung Chaos, Mangel und Desorganisation. Die Sowjetunion war trotz ihrer totalitären Ambitionen weit von einer effektiven Bürokratie entfernt, was zu einer Flut von Beschwerden führte. Darin beklagten sich Veteranen, dass das Leben nicht besser, sondern sogar schlechter werde. Im zweiten Teil wird besonders auf verschiedene Veteranengruppierungen wie ehemalige Kriegsgefangene, Kriegsinvalide oder Frauen eingegangen. Die Reintegration in die zivile Gesellschaft hing stark von sozialen Netzwerken, weniger von staatlichen Strukturen ab. Vor allem Familienangehörige übernahmen wichtige Aufgaben der sozialen Fürsorge, stellten Wohnraum zur Verfügung oder kümmerten sich um Kriegsverletzungen. Besonderes Augenmerk richtet Mark Edele auf Kriegsinvalide, da ihre Situation und ihre Anliegen gut dokumentiert sind. Ihre besonderen Bedürfnisse zeigen das Versagen der staatlichen Fürsorge angesichts einer defizitären Wirtschaft, aber auch die Tabuisierung von unangenehmen Kriegsfolgen. Folglich bildeten einige Kriegsinvalide eine wichtige Gruppe von Randständigen; sie bettelten oder engagierten sich in der Schattenwirtschaft. Eine besonders stigmatisierte Veteranengruppe waren ehemalige Kriegsgefangene, die wie Feinde oder potentielle Spione behandelt wurden und oft nach der Rückkehr in die Sowjetunion gleich ins Lager kamen. Erst 1955 änderte sich die repressive Haltung durch eine allgemeine Amnestie. Eine volle Rehabilitation erfolgte im Jahr 1995. Trotz der massiven Einschränkungen gelang einigen von ihnen dennoch eine Karriere oder ein sozialer Aufstieg. Mark Edele thematisiert auch weibliche Veteranen, die zahlenmäßig eine Minderheit darstellten. Entgegen bisherigen Forschungen hält der Verfasser die gebräuchlichen Angaben für Frauen in der Roten Armee für überhöht. 1945 habe es nicht etwa 800.000, sondern nur 463.500 weibliche Armeeangehörige gegeben. Und auch die in der wissenschaftlichen Literatur dargestellte Diskriminierung von Frauen, die in der Roten Armee gedient hatten, sei für die Nachkriegsjahre überbetont worden und in der Realität weit weniger schlimm gewesen. Zudem sei die Frage der Lebensplanung von Kriegsveteranen nicht geschlechtsspezifisch gewesen, sondern habe sich auch jungen männlichen Rekruten gestellt. Zentrale Argumente leitet Edele aus den Publikationen von Svetlana Aleksievič über weibliche Kriegserfahrungen ab, ohne jedoch die Quellen in Hinblick auf Sinnkonstruktionen, Deutungsmuster, Performanz oder kulturelle Rahmenbedingungen zu befragen. Dieser Kritikpunkt lässt sich allgemein auf seinen Umgang mit Selbstzeugnissen und Archivquellen in dieser Studie ausweiten. Dennoch eröffnet Mark Edele nicht nur in Bezug auf die Gender-Frage mit seinen Hypothesen interessante Forschungsdebatten und weist auf wichtige Forschungsdesiderate hin.

Im dritten Teil des Buches wird die Organisationsgeschichte des SKVV erstmals ausführlich geschildert. Dafür sichtete der Autor den entsprechenden Archivbestand im GARF. Bereits im Spätsommer 1946 gab es eine Initiative zur Gründung einer Veteranenorganisation, die eine starke Bewegung mit ausgeprägter Wohlfahrtstätigkeit und Auslandspropaganda vorsah. Die Gründung des SKVV zehn Jahre später bezeichnet Edele als ‚potemkinsche Institution‘, da sie ein Instrument der internationalen Propaganda im Kalten Krieg werden sollte. Engagierte Veteranen nutzen das SKVV trotz wiederholter Reglementierungen von oben aber als Interessenvertretung und schafften damit spätestens in den achtziger Jahren eine Stärkung als soziale Kraft.

Mark Edele greift mit der vorliegenden, gut lesbaren Forschungsarbeit ein innovatives Thema auf, das differenzierte Einblicke in die sowjetische Nachkriegsgesellschaft bietet. Am Beispiel der sozialen Bewegung der Veteranen weist er auf Entwicklungen hin, die nicht durch Staat oder Partei initiiert und gelenkt wurden, sondern auf Interessensgemeinschaften beruhten. Es wäre jedoch wünschenswert gewesen, wenn der Verfasser die dargestellten Ereignisse und Entwicklungen stärker explizit mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatten über soziales Handeln, Vergesellschaftung, Identitäten und Erinnerung verbunden hätte.

Carmen Scheide, Konstanz

Zitierweise: Carmen Scheide über: Mark Edele Soviet Veterans of the Second World War. A Popular Movement in an Authoritarian Society, 1941–1991. Oxford University Press Oxford 2009. XII, ISBN: 978-0-19-923756-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scheide_Edele_Soviet_Veterans.html (Datum des Seitenbesuchs)

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