Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 493-495

Verfasst von: Ralph Schattkowsky

 

Russlandheimkehrer. Die sowjetische Kriegsgefangenschaft im Gedächtnis der Deutschen. Hrsg. von Elke Scherstjanoi. München: Oldenbourg, 2012. VI, 264 S., zahlr. Abb. = Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer. ISBN: 978-3-486-70938-4.

Der Sammelband geht auf ein im Januar 2008 von der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte und dem Deutschen Historischen Museum veranstaltetes Kolloquium unter dem Titel Deutsche Kriegsgefangene in sowjetischen Lagern. Bilder – Sprache – Gedenken zurück. In der Einleitung stellt die Herausgeberin das Projekt alsin der Summe buntes Spektrum historischerBild‘-Analysenvor und erklärt den Bild-Begriff alsKonstrukte aus menschlich verarbeiteten Eindrücken aller Art(S. 2), die in einem weiteren Schritt auf ihreFunktionalität im historisch-politischen Kontext(S. 3) befragt werden sollen. Dass hierbei sich der deutsch-deutsche Vergleich geradezu aufdrängt, erscheint einleuchtend. Die Feststellung jedoch, dass einderart thematisch fixierter, deutsch-deutsch vergleichender Blick […] bislang noch auf keinen Aspekt der deutschen Nachkriegs-Vergangenheitsarbeit gerichtet“ worden sei (S. 4), darf zumindest mit Blick auf den Problemkreis Flucht, Vertreibung, Integration bezweifelt werden. Der Band verzichtet auf theoretische Erörterungen, und der Anspruch der Beiträge wird als bewusst empirisch beschrieben. So beschäftigt sich die Einleitung nach einer begrifflich stark komprimierten Vorstellung verschiedener Theoreme zu Erinnerung und Bildhaftigkeit in ihrem zweiten Teil dann auch ganz konkret mit dem gegenständlichen Bild, dem Entstehungsprozess und der Verwertung von Fotografien und Zeichnungen aus den Gefangenenlagern der Sowjetunion anhand zahlreicher Beispiele. Bereits hier macht die Herausgeberin auf die politische Funktion der Bilder als anklagende Verwertung, die in die dominante Erinnerungsliteratur der alten Bundesrepublik passte und zu einer sehr selektiven Auswahl des Bildmaterials führte, aufmerksam mit der Konsequenz, dass interessantes Bildmaterial, das nicht zu den Vorgaben passte, erst nach 1990 an die Öffentlichkeit gelangte und somit durchaus weiterhin mit neuem Material zum Thema gerechnet werden kann.

Der Band umfasst zwölf Beiträge, die das Thema der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion aus der Perspektive von persönlicher Erinnerung, von Bildern, Filmen und Literatur in der Bundesrepublik, der DDR aber auch der Sowjetunion behandeln. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Philip Stiasny über die Kriegsgefangenschaft in Literatur und Film der Weimarer Republik. Insofern muss gefragt werden, ob der Titel gut gewählt ist, denn es geht ja nicht um die Russlandheimkehrer, sondern um ihre Zeit in der Gefangenschaft. Die Herausgeberin beginnt mit einem bemerkenswerten Text zum Problemkreis der Zeitzeugenbefragung und dessen aktuellen Aspekten. Im Wesentlichen geht es um die Analyse eines Interviewprojektes, das von der Verfasserin zwischen 2005 und 2008 mit Zeitzeugen zum Thema Kriegsgefangenschaft durchgeführt wurde. Sie stellt das Projekt in den Zusammenhang des Selbstfindungsprozesses der Deutschen nach 1989, dem das Bedürfnis nach einer Normalisierung inhärent ist und der sich mit einem Opfer-Diskurs verbindet alsTeil einer neokonservativen Entdifferenzierung und Entproblematisierung(S. 19), ähnlich dem Zustand Anfang der 50er Jahre in der Bundesrepublik. Diesem Trend stehen jedoch die großen Möglichkeiten einer Versachlichung des Diskurses durch fortgeschrittenes Wissen, den breiten Geschichtsdiskurs und die neuen Kommunikationsformen entgegen, deren Früchte sich bereits in der breiteren Wahrnehmung des Schicksals der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland und der Verstöße auch westlicher Siegermächte gegen das Kriegsrecht zeigen. Die Darstellung folgt Schlüsselbegriffen der Gefangenschaft wie Gefangennahme, Viehtransporte, Stacheldraht, usw. Allgemein stellt die Autorin bereits eine Versachlichung fest. Die weit verbreitete Unterscheidung zwischen einfachen, guten Russen und der grausamen Macht­elite steht nunmehr eher im Hintergrund, und auch dieAntifa-Scheltefindet kaum noch statt. Allein das Ärztinnen-Bild, dem die Autorin sich in einem Beitrag am Ende des Bandes noch einmal gesondert zuwendet, erscheint von einer positiven Kontinuität. Den Grund der Versachlichung sieht die Autorin weniger in der unterschiedlichen Prägung durch zwei deutsche Nachkriegsgeschichten als mehr im Alter und im historischen Abstand der Befragten, vor allem aber in der Tatsache, dass nunmehr eher untere Ränge zu Worte kommen, wenn auch klarere Wertungen erst durch Milieustudien zustandekommen würden, die als Aufgabe für die Forschung bestehen.

Vier Beiträge haben die Ausgestaltung der Erinnerungskultur zur Gefangenschaft in der Bundesrepublik des Nachkriegs zum Gegenstand. Birgit Schwelling schreibt unter dem Titel Verlorene Jahre? über den Verband der Heimkehrer. Der VdH war, 1950 gegründet, innerhalb weniger Jahre zum mitgliederstärksten und einflussreichsten Veteranenverband der Bundesrepublik geworden. Ein zentrales Feld seiner Tätigkeit war die öffentlichkeitswirksame Darstellung der Erinnerung an die Kriegsgefangenen und die Kriegsgefangenschaft, wobei die Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion von vornherein die beherrschende Rolle spielte. Mit wenigen Symbolen versinnbildlicht und auf detaillierte Schilderungen des Lageralltags, vor allem des Lagerregimes weitgehend verzichtend, wurde die Opferrolle als Gründungsmythos des Verbandes etabliert, aus der die Gemeinschaft der Gefangenen erwuchs als einzig sinnstiftendes Element des Daseins. Aus der Analyse der Tätigkeit des Verbandes und seiner Schriftlichkeit entwickelt die Autorin zwei Hauptrichtungen der Argumentation des Verbandes. Das ist einmal die kulturpessimistische Sicht auf die Konsumgesellschaft der frühen Bundesrepublik und zum anderen die Stoßrichtung gegen dieAnderenim Lager, die antifaschistischen Aktivisten und die Funktionshäftlinge, die die Seite gewechselt hatten. Eben diese Elemente der Grunderzählung des VdH bestimmten die Ausstellungen des Verbandes 1951–1962, die Andrea von Hegel in ihrem Beitrag Der Sinnlosigkeit einen Sinn geben beschreibt, und sie sind Gegenstand von Buchillustrationen, die Berthold Petzinna vorstellt. In diesen allgemeinen Werte- und Bewertungsmaßstab ordnen sich auch Berichte aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft ein, die derselbe Autor in einem weiteren Beitrag thematisiert. Gerade diesenAnderenwidmet sich der Autor mit der Beschreibung von gegenseitigen Vorwürfen, die in einer regelrechten Prozesswelle in den 50er Jahren mündeten. Er schildert darüber hinaus in einem eigenen Abschnitt ausführlicher die in der Einleitung bereits erwähnten Muster der Bewertung des einfachen Russen und des Apparatschiks. Darauf, dass es bereits zeitgenössischeGegenerzählungengegeben hat macht Helmut Peitsch in seiner literaturwissenschaftlichen Analyse des Romans Wunschkost von Hans Bender aufmerksam und verbindet damit eine vergleichende Analyse der Literatur über die Gefangenschaft in den 50er Jahren. Leonore Krenzlin widmet sich der Perspektive der anderen Seite und analysiert in ihrem Beitrag unter dem Titel Lagerfrust und Antifa die Darstellung des Kriegsgefangenenschicksals in der DDR-Literatur. Bereits 1949 war im von der sowjetischen Besatzungsmacht gegründeten SWA-Verlag ein Sammelband Kriegsgefangene in der Sowjetunion erschienen. Wohl als Entgegnung auf westdeutsche Schreckensberichte über den Lageralltag konzipiert, wurde dieser Publikation ein dokumentarischer Charakter gegeben, um ihre Glaubwürdigkeit zu steigern, die die Verfasserin zurecht in Zweifel zieht allein schon angesichts der Tatsache, dass sämtliche Berichte unter Lagerbedingungen zustande kamen und eben nicht von Heimkehrern unter freien Bedingungen verfasst wurden. Außerdem war es kein Geheimnis, dass Kritik an den Verhältnissen in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern unerwünscht war. Darstellungen des Lagerlebens sind deshalb auch in der DDR-Literatur selten geblieben. Franz Fühmann erregte mit seinem lyrischen Text Fahrt nach Stalingrad 1953 einige Aufmerksamkeit und Johannes Bobrowski sah seinen Text Bericht über die ersten Jahre der Gefangenschaft gar nicht erst zur Veröffentlichung vor, sondern verstand ihn als Selbstverständigung über den Zerfall der sozialen Beziehungen unter den Bedingungen der Haft. Eine Ausnahme bildet der Roman Die Lüge von Herbert Otto, der zwar die Frage der Schuld in den Mittelpunkt rückt, aber durchaus auf die leidvollen Erfahrungen der Lagerhaft hinweist. Deutlicher wird Hermann Kant in seinem Roman Der Aufenthalt, der in einer anspruchsvollen Handlung die Frage der Schuld sehr geschickt reflektiert, dennoch keinen Zweifel an den erbärmlichen Bedingungen im sowjetischen Kriegsgefangenenlagern lässt und sie als künstlerisches Mittel benutzt.

Der Band schließt mit Beiträgen über die Kriegsgefangenschaft im Film ab. Peter Jahn gibt Beispiele für die Helden- und Opferrollen anhand von Spielfilmen in der Bundesrepublik der 50er und frühen 60er Jahre, Ralf Schenk analysiert das DEFA-Kino zum Thema Kriegsgefangenschaft und kommt zu dem Schluss, dass es eigentlich nur zwei Filme, 1970 und 1977, gab, die dieses Thema berücksichtigten, ansonsten der (Anti)Kriegsfilm dominierte, der sich aber nahezu ausschließlich mit dem Krieg im Osten beschäftigte. Einen ähnlichen Befund trifft Elena Müller für den deutschen Kriegsgefangenen im sowjetischen Film. Er kommt eigentlich nicht vor. Erst durch die Perestroika wird er im Zusammenhang mit einer ersten kritischen Auseinandersetzung mit dem Sowjetsystem als Mensch entdeckt und als Teil des Lagersystems gesehen. Die Darstellungen bleiben aber diffus und eher selten, in der Ära Putin zunehmend mit der Position des Besiegten und Gedemütigten. Eine Dokumentation über Filmbilder schließt den Band ab. Er besitzt ein Autorenverzeichnis.

Ralph Schattkowsky, Rostock/Toruń

Zitierweise: Ralph Schattkowsky über: Russlandheimkehrer. Die sowjetische Kriegsgefangenschaft im Gedächtnis der Deutschen. Hrsg. von Elke Scherstjanoi. München: Oldenbourg, 2012. VI, 264 S., zahlr. Abb. = Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer. ISBN: 978-3-486-70938-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schattkowsky_Scherstjanoi_Russlandheimkehrer.html (Datum des Seitenbesuchs)

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