Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), S. 308-310

Verfasst von: Susanne Schattenberg

 

Melanie Ilic / Jeremy Smith (ed.): Soviet State and Society Under Nikita Khrushchev. New York [etc]: Routledge 2009, 216 S. ISBN: 978-0-415-47649-2.

Jeremy Smith / Melanie Ilic (ed.): Khrushchev in the Kremlin. Policy and Government in the Soviet Union, 19531964. New York [etc.]: Routledge 2011, 249 S. ISBN: 978-0-415-47648-5.

Die poststalinistische Sowjetunion ist sehr en vogue, und in letzter Zeit sind einige Titel mit wichtigen Thesen erschienen: zu den Beharrungskräften des stalinistischen Diskurses von Miriam Dobson, über die performative, systemstabilisierende Kraft von Ritualen von Alexei Yurchak oder auch die Anlehnung des nonkonformen Diskurses an den Parteiparolen von Ben Nathans und Serguei Oushakine. In dieser Hinsicht sind die beiden Sammelbände von Jeremy Smith und Melanie Ilic eher enttäuschend, präsentieren sie doch keine substantiell neuen Thesen oder Interpretationen. Bei den meisten der 21 Beiträge, die aus einem Projekt an der Universität Birmingham zu „Policy and Governance in the Soviet Union under Nikita Khrushchev“ (20052008) hervorgegangen sind, handelt es sich um solide, aber oft auch etwas dröge Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die viele Zahlen und Daten präsentiert, aber sich nicht an neuen Thesen versucht. Bezeichnend ist, dass in den Einleitungen auf die Skizzierung einer gemeinsamen Fragestellung verzichtet wird. Im ersten Band wird unterstrichen, dass ein „case study approach“ (I, 1) gewählt wurde; in Band zwei wird betont, dass sich die Gesellschaft nach Stalin fundamental geändert habe und nun von gebildeten Städtern geprägt gewesen sei (II, 2). Auch fehlt eine Unterteilung der Aufsätze in größere Blöcke. Nach welchen Kriterien sie angeordnet sind bzw. auf die beiden Bände verteilt wurden, erschließt sich nicht. Beide bieten eine bunte Mischung aus Beiträgen zur Veränderung in Staat und Partei, gesellschaftlichen Phänomenen und wirtschaftlichen Entwicklungen.

Einen enttäuschenden Beitrag liefert Ian Thatcher zu „Khrushchev as leader“ (II), der nichts Neues zu berichten weiß, dafür aber die Taubman-Biographie verunglimpft. Ähnlich enttäuschend sind die beiden Beiträge von Alexander Titov zum ZK-Apparat unter Chruščev (II) bzw. zum Parteiprogramm 1961 (I), wo letzterer vieles an Strukturveränderungen referiert, aber wenig analysiert. Wesentlich interessanter ist da der Beitrag von Nikolai Mitrokhin (II), der nachzeichnet, wie Chruščev seit den 1930er Jahren erfolgreich ein Netzwerk an Unterstützern aufbaute, das ihm 1957 das politische Überleben sicherte. Interessant ist auch der Beitrag von Julie Elkner über die Versuche, das Image des KGB aufzupolieren und die „Tschekisten“ als Vertrauensleute der Bevölkerung darzustellen (I). Weitgehend bekannte Fakten liefert dagegen Robert Hornsby in seinen beiden Texten zum Dissens, die weit hinter den Thesen von Ben Nathans oder Miriam Dobson zurückbleiben: Dass die Chruščev-Jahre wie eine „mixed bag“ waren (II, 75) und auch die Dissidenten schlecht organisiert und chaotisch agierten (I, 177), haben wir schon vorher gewusst.

Bedauerlich ist, dass die meisten Beiträge die „Adlerperspektive“ nicht verlassen und die besondere Situation, die Lebens- und Diskurswelten der Menschen kaum einfangen. Eine Ahnung von der doch vorhandenen Aufbruchstimmung bekommt man in dem Beitrag von Pia Koivunen über das Moskauer Jugend-Festvial 1957, das der Moskauer Jugend zwei Wochen lang einen nie wieder erlebten, euphorischen Ausnahmezustand bescherte: Man verstand, was „Internationalismus“ bedeuten konnte (I, 59). Die Wiederbelebung der Gesellschaft, die Ermutigung der Partei an die Bevölkerung, sich wieder einzubringen und mitzureden, wird in den Beiträgen über die Schulreform 1958 (Laurent Coumel, I), alleinerziehende Mütter (Helene Carlbäck, I), die Wiederbelebung der Žen­sovety (Melanie Ilic, I) und der Gewerkschaften (Jumbae Jo, I) deutlich. Allerdings werden hier wieder v. a. Statistiken präsentiert, deren Aussagen über die Erkenntnisse von manchem Aufsatz aus den 1980er Jahren nicht hinauskommen.

Nur zweimal wird der Blick über das russische Kernland hinausgeworfen: Jeremy Smith beschreibt die Chruščev-Zeit in den Unionsrepubliken als „Völkerfrühling“, der nicht nur einheimische Erste Sekretäre, sondern auch einen Nationalismus hervorbrachte, der nun von gut gebildeten Städtern getragen wurde, die ihre Identität über ihre nationale Herkunft definiert hätten (II, 91). Aber auch hier wird auf den Blick auf die „Mikroebene“ verzichtet und hauptsächlich referiert, wann in welcher Republik welcher Sekretär eingesetzt und wieder geschasst wurde. Katalin Miklóssy stellt die spannende und in dieser transnationalen, vergleichenden Perspektive noch wenig behandelte Frage, wie sich durch den „Geist“ Chruščevs mittelfristig die Beziehungen der „Bruderstaaten“ zu Moskau veränderten. Allerdings geht sie sehr schematisch vor, indem sie ein politikwissenschaftliches Modell anlegt, nach dem sich die drei Ebenen der politischen Praxis, der Herrschaftsweise und der Ideologie gegenseitig bestimmt hätten. Sie konstatiert, dass die ČSSR alle drei Ebenen in Frage stellte, Rumänien sich nicht um die Ideologie kümmerte, sondern nur Herrschaft und Praxis veränderte, während Polen und Ungarn einzig die politische Praxis reformierten (II, 163).

Schließlich beschäftigt sich ein Drittel der Aufsätze mit Technologie, Industrie und Wirtschaft. Dazu sei angemerkt, dass wir von einer Neuen Wirtschaftsgeschichte noch weit entfernt sind, die sich weniger auf Produktionsbedingungen, Ressourcen und Output konzentriert, sondern mehr auf Funktionsweisen und Prozesse, ohne diese in starre Modelle zu gießen, sondern um nach den spezifischen Verhaltensmustern von Wirtschaftsbossen, Ingenieuren und Arbeitern zu fahnden. Es fehlen Mikrogeschichte, Netzwerkanalysen und Patronagestudien, um die wahren Transmissionsriemen und Gesetze in der sowjetischen Wirtschaft auszumachen. In diese Richtung geht der Beitrag von Oleg Khlevniuk, der den Fall von Rjazan als Aufhänger nimmt, wo der Erste Sekretär 1960 Selbstmord beging, als ruchbar wurde, dass sein Fleischproduktionsrekord 1959 erschummelt war. Khlevniuk zeigt, was die „üblichen Sünden“ (II, 182) der sowjetischen Planwirtschaft waren und wie stillschweigende Abkommen zwischen den Zuständigen auf den verschiedenen Ebenen verhinderten, dass das Betrügen und Fälschen wirklich hart bestraft wurde. Auch die Aufsätze von Nataliya Kibita und Valery Vasilev deuten an, wie wichtig eine Neue Wirtschaftsgeschichte über die Sovnarchozy wäre; beide verharren aber in einer traditionellen Institutionengeschichte (wann wurde welches Ministerium reorganisiert) bzw. bei der Frage, ob effektives Planen überhaupt möglich war. Kibita schreibt, dass es ein Ringen zwischen dem Zentrum und hier den Ukrainischen Sovnarchozy um Ressourcen und die Frage, wie viele der produzierten Güter die Ukraine behalten durfte, gab, geht aber auf diese Aushandlungsprozesse nicht näher ein. Auch Sari Autio-Sarasmo thematisiert Netzwerke, nämlich zwischen sowjetischen und finnischen, aber auch zwischen schwedischen und westdeutschen Wirtschaftsführern und Industrievertretern, ohne zu sagen, was dies nun für Netzwerke waren und welche Bedeutung sie hatten. Sie beschreibt in erster Linie den Schlingerkurs der sowjetischen Führung, der die westlichen Partner immer wieder düpierte. Einerseits wollte Chruščev dringend Zugang zu kapitalistischer Technologie, andererseits war er aber im Grunde nicht bereit, die westlichen Ingenieure an eigene Produktionsstätten zu lassen. Hochinteressant wäre sicher die Baugeschichte des AKWs, das mit sowjetischer Technologie nach westlichen Sicherheitsstandards und mit finnischer Bauexpertise in Finnland gebaut wurde (II, 142). Schließlich beginnen und enden die beiden Bände mit dem Wohnungsbauprogramm: in Band I führt Mark Smith gleich an zweiter Stelle die überaus große Bedeutung der Wohnungsreform aus, die zum Teil des Programms zum Aufbau des Kommunismus erklärt wurde (I, 33). Der II. Band endet mit einem ausführlichen Text von R. W. Davies und Melanie Ilic über Chruščev und das Bauen. Im Gegensatz zum Beitrag von Smith, der gerade die gesellschaftspolitische Dimension der Chruščevki betont, liefern Davis und Ilic mit ihrem Vergleich von Chruščevs Bautätigkeit in den 1930er Jahren in Moskau und seinem Programm aus den 1950er Jahren eine reine Baugeschichte, die von vielen Zahlen und Statistiken getragen wird. Insgesamt bleibt der zweite Band an Vielfalt, Originalität und Lektüregenuss der Beiträge noch hinter dem ersten zurück. Der Titel „Khrushchev in the Kremlin“ hatte Analysen über Herrschaft und Personal im Kreml erwarten lassen; statt dessen ist mehr als die Hälfte Wirtschaftsgeschichte. Über „Khrushchev in the Kremlin“ bleibt noch viel zu sagen.

Susanne Schattenberg, Bremen

Zitierweise: Susanne Schattenberg über: Melanie Ilic / Jeremy Smith (ed.): Soviet State and Society Under Nikita Khrushchev. New York [etc]: Routledge 2009, 216 S. ISBN: 978-0-415-47649-2. Jeremy Smith / Melanie Ilic (ed.): Khrushchev in the Kremlin. Policy and Government in the Soviet Union, 1953–1964. New York [etc.]: Routledge 2011, 249 S. ISBN: 978-0-415-47648-5., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schattenberg_Soviet_State.html (Datum des Seitenbesuchs)

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